Nachhaltigkeit trotz(t) Krisen

Münden die globalen Herausforderungen zusehends in einem Desinteresse an nachhaltigen Anlagen? Eine Einschätzung von Fabio Pellizzari, Leiter ESG Strategie & Business Development im Asset Management der Zürcher Kantonalbank.

Interview: Melanie Gerteis / Bild: David Ramseier

Fabio Pellizzari, Leiter ESG Strategie & Business Development im Asset Management der Zürcher Kantonalbank: «Unsere Kundinnen und Kunden investieren mehr und mehr in nachhaltige Produkte.»

Es sind Zeiten der Unsicherheit. Sind nachhaltige Anlagen deshalb weniger gefragt?

Nicht wirklich. Noch während der Finanzkrise 2008 verzeichneten nachhaltige Anlagen viele Geldabflüsse und das Thema verlor an Dynamik. Nun ist das Gegenteil der Fall. Unsere Kundinnen und Kunden investieren mehr und mehr in nachhaltige Produkte. Auch die aktuelle Sustainable-Investments-Studie der Hochschule Luzern bilanziert: Traditionelle Fonds verlieren relativ gesehen, das Interesse für nachhaltige Anlagen steigt entsprechend.

Was ist Ihre Erklärung dafür?

Die ökologischen und sozialen Probleme sind omnipräsent und betreffen Gesellschaften immer konkreter. Extreme Wetterereignisse wie Waldbrände, Wirbelstürme oder heftige Niederschläge häufen sich weltweit. Wegen des weiterhin steigenden Meeresspiegels werden manche Inselstaaten und Städte in Küstenregionen mutmasslich komplett verschwinden. Der wärmere Ozean wirkt sich massiv auf die Biodiversität aus und lässt Korallenriffe absterben. Und an Land: Laut Zahlen des Living Planet Reports des WWF hat der Bestand der Wirbeltiere in den vergangenen 50 Jahren global um 60 Prozent abgenommen. Bis 2030 wollen nun 200 Staaten mindestens 30 Prozent der weltweiten Land- und Meeresflächen unter Schutz gestellt haben. Dies wurde jüngst am UNO-Biodiversitätsgipfel in Montreal beschlossen. Ohne solche Verpflichtungen wird es wohl auch nicht funktionieren.

Doch gewisse Regionen sind schon längst stark bedroht.

In der Tat gibt es Regionen, die seit Jahren unter extremen Dürren leiden. Die Böden sind entsprechend ausgelaugt und vertrocknet – ursprünglich nutzbare Flächen geben nichts mehr her.

Die Folgen?

Humanitäre Krisen. Manche Länder sind dauerhaft auf Hilfsgüter angewiesen. Und mitunter brechen die Menschen auch auf, verlassen ihre Heimat. Hierzulande wiederum führen diese sozialen und wirtschaftlichen Ungleichgewichte zu einem Umdenken, besonders bei der jüngeren Generation. Viele achten deshalb auch bei ihren Anlagen auf Nachhaltigkeit.

Anzahl nachhaltiger Fonds in der Schweiz seit 2016 (jeweils per 30. Juni)

Quelle: IFZ Sustainable Investments Studie 2022 (hslu)

Die Nachfrage nach nachhaltigen Anlagen steigt, und mit ihr auch die Greenwashing-Vorwürfe. Ist dies berechtigt?

Greenwashing liegt beispielsweise dann vor, wenn Nachhaltigkeitsattribute in einem Produkt beworben, diese in der Realität jedoch nicht umgesetzt werden. Der Schweizer Markt hat meines Erachtens kein systematisches Greenwashing-Problem. Viele Missverständnisse entstehen aufgrund einer Nichtübereinstimmung der Kundenerwartungen mit den effektiven Attributen der angebotenen Produkte. Erhöhte Transparenz und Ausbildung der Belegschaft – insbesondere am Point-of-Sale – sind hier wichtige Gegenmassnahmen, in welche auch die Zürcher Kantonalbank investiert. Investorinnen und Investoren sollten sich unter anderem darüber informieren, welche nachhaltigen Ansätze im Produkt verfolgt werden.

Wie performen nachhaltige Produkte?

Oftmals mindestens gleich gut wie traditionelle Anlagen. Durch das Antizipieren von Trends profitieren diese Produkte vom Wachstumspotenzial der anstehenden Transition, indem etwa in bestimmte Technologien oder Branchen investiert wird. Auch Risikoüberlegungen spielen eine wichtige Rolle. Denn Corporate-Governance-Probleme oder Umweltskandale können der Reputation einer Unternehmung schaden und das Portfolio negativ belasten.

Weshalb wird dennoch traditionell angelegt?

Weil schlussendlich die Kundschaft über ihr Vermögen entscheidet und bei passiven Produkten den gewünschten Index vorgibt. Wir bieten jedoch auch in diesem Bereich nachhaltigere Produkte an, die entsprechende Kriterien berücksichtigen. Aktiv verwaltete Vermögen legen wir standardmässig nachhaltig an.

Responsible, Sustainable, SDG, ESG – an Begriffen mangelt es nicht. Doch was unterscheidet SDG- von ESG-Investitionen?

Der entscheidende Unterschied ist das Was beziehungsweise das Wie. Bei den UN Sustainable Development Goals, kurz SDGs, steht das Was im Fokus, also die Produkte und Dienstleistungen von Unternehmungen und wie diese zu ökologischen und sozialen Lösungen beitragen.

Bei der ESG-Integration – kurz ESG – geht es nicht darum, wie nachhaltig Produkte oder Dienstleistungen einer Unternehmung sind, sondern: Wie nachhaltig ist die Unternehmung überhaupt geführt und wie wirken sich Nachhaltigkeitsrisiken auf den zukünftigen Aktionärswert aus.

Was heisst dies konkret?

Angenommen, eine Unternehmung betreibt in einer wasserkargen Region Stromerzeugungsanlagen. Ist das Wasser knapp, können die Anlagen nicht mehr gekühlt und müssen somit heruntergefahren werden. Folglich wird kein Strom generiert, was zu Umsatzeinbussen führt. Bei der ESG-Betrachtung wird nun beispielsweise gefragt, wie sich diese Situation auf den Aktionärswert auswirkt.

Hier beginnen die Missverständnisse.

Richtig, denn die ESG-Betrachtung entspricht oft nicht dem, was Retailkundinnen und -kunden unter Nachhaltigkeit verstehen. Sie denken hierbei nicht an eine nachhaltige Unternehmensführung, sondern an nachhaltige Produkte mit positivem Effekt.

Plakativ: Tesla schneidet in unserem ESG-Score beispielsweise bei vielen Kriterien nicht so gut ab. Themen sind hier sicherlich Arbeitsbedingungen, Humankapital, Sicherheitsfragen hinsichtlich des Autopiloten aber auch Corporate-Governance-Aspekte wie etwa die fehlende Separierung CEO/Chairman. Die Unternehmung wurde zum Beispiel auch aus dem Nachhaltigkeitsindex S&P 500 ESG entfernt. Im Was ist die Firma hingegen sehr gut. So ist Tesla etwa bei der Elektrifizierung des Verkehrs und bei den Batterien führend.

Anderes Beispiel: Philip Morris ist gemäss unserer Einschätzung ein hervorragend geführtes Unternehmen mit einer vorbildlichen Corporate Governance, führend im Bereich der Talentrekrutierung. Zudem hat sich das Unternehmen zu Netto-Null verpflichtet. Die ESG-Bewertung ist somit sehr hoch. Im Was hingegen: schlecht. Tabak ist sehr schädlich und lässt sich nicht mit dem Ziel 3 der UN Sustainable Development Goals vereinbaren, das Gesundheit und Wohlergehen für alle fordert.

Der Blickwinkel ist somit entscheidend ...

Für viele Investorinnen und Investoren ist es herausfordernd, die verschiedenen Aspekte der Nachhaltigkeitsleistung einer Anlage in ein ganzheitliches Verständnis zu bringen. Ein ESG-Rating erfasst primär die operative Exzellenz. Jedoch werden wichtige Aspekte wie die ökologischen und sozialen Auswirkungen der wirtschaftlichen Tätigkeit oder auch kontroverse Aspekte nicht oder nicht genügend stark reflektiert. Um eine ganzheitlichere Sichtweise zu erreichen, fliessen bei uns nebst dem ESG-Score immer auch Kontroversen, die Nachhaltigkeitsbeurteilung der angebotenen Produkte und der CO2e-Fussabdruck in die Beurteilung mit ein.

Was trägt zu mehr Klarheit bei?

Die Selbstregulierung der Schweizerischen Bankiervereinigung sieht vor, dass die Nachhaltigkeitspräferenzen der Kundschaft erfasst werden. Es ist elementar zu verstehen, was eine Kundin oder ein Kunde tatsächlich will, wenn es um nachhaltige Anlagen geht. Weil dann eben, wie bereits ausgeführt, gegebenenfalls Philip Morris im Portfolio sein kann, Tesla jedoch nicht. Im EU-Raum geht die Regulierung mit MiFID II, SFDR und EU-Taxonomie noch deutlich weiter: Letztere gibt vor, welche Wirtschaftsaktivitäten als nachhaltig gelten und welche nicht.

Neu gelten aber auch Gas- und Atomkraft als nachhaltig.

Die EU hatte bereits vor der Energiekrise politischen Druck – etwa von Frankreich und anderen Atomstaaten –, Gas- und Atomkraft in die EU-Taxonomie aufzunehmen. Sie gelten nun tatsächlich als nachhaltig – wenn auch nur unter bestimmten Bedingungen.

Atomenergie ist CO2-effizient und hat einen ähnlichen Ausstoss wie Windkraft. Es ist jedoch weiterhin unklar, wie die stark radioaktiven Brennstäbe entsorgt werden sollen. Fukushima hat gezeigt, dass ein Restrisiko einer Nuklearkatastrophe nicht gänzlich ausgeschlossen werden kann. Ferner stellt sich die Frage, wie sinnvoll es ist, heute noch Kernkraftwerke zu planen, die rund 20 Jahre für die Umsetzung benötigen. Die Energie daraus kommt zu spät. Wir benötigen andere Lösungen.

Wobei auch Gas nicht zu den Lösungen gezählt wird.

Gas ist im Vergleich zu anderen fossilen Energieträgern die «klimafreundlichste» Form. In der Transitionsphase wird Gas somit sicher wichtig bleiben. Insbesondere an windstillen, bewölkten Tagen werden die erneuerbaren Energien wohl nicht ausreichend Strom produzieren, um sämtliche Menschen zu versorgen und den Wirtschaftskreislauf aufrechtzuerhalten. Massnahmen zur Steigerung der Energieeffizienz und zum Aufbau von Speicherkapazitäten sind somit essenziell, um die Bedeutung von Gas langfristig zu reduzieren.

Fakt ist: Durch die Aufnahme von Gas- und Atomkraft in die EU-Taxonomie hat sich die EU angreifbar gemacht. Das vergangene Jahr hat deutlich gemacht, dass es bei der Energie grosse Abhängigkeiten zu vermeiden gilt und es alternativer Quellen bedarf.

Welche Rolle spielt Gas- und Atomkraft in den Sustainable-Fonds von Swisscanto?

Gas- und Atomkraft werden von den Ausschlusskriterien unserer Sustainable-Fonds erfasst.

Wie sehen nachhaltige Anlagen in fünf bis zehn Jahren aus?

Vermutlich nicht viel anders als heute – jedoch regulierter und standardisierter.

Viele Unternehmen werden sich Netto-Null-Ziele und einen Dekarbonisierungspfad gesetzt haben. Sehr wahrscheinlich werden in der Schweiz deutlich mehr Elektromobile auf der Strasse unterwegs sein. Der Strommix wird vermutlich mehr erneuerbare Energien enthalten und neue Heizungen mit Erdwärme betrieben werden. Es ist damit zu rechnen, dass mehr Güter lokal produziert werden und dass sich vermehrt pflanzenbasierte Lebensmittel durchsetzen. All diese Veränderungen werden sich auch im Portfolio widerspiegeln.

 

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