So viele Rating­änderungen wie seit über zehn Jahren nicht mehr

Präzise, innovativ und von hoher Qualität – dafür ist die Schweizer Industrie bekannt. Pro Jahr beträgt die Wertschöpfung der international stark vernetzten Branche geschätzte 130 Milliarden Franken. Zudem gehört die Schweiz zu den zehn grössten Maschinenexportländern. Die aktuellen Herausforderungen stellt die Widerstandsfähigkeit des Sektors jedoch auf eine Probe.

Text: Melanie Gerteis

Der Swiss Rating Guide der Zürcher Kantonalbank hat die Bonität von nahezu 180 inländischen Unternehmens- und öffentlichen Schuldnern analysiert. (Bild: safakc1 / Envato Elements)

Bislang zeigen sich die Unternehmen mehrheitlich robust, auch wenn das positive Zinsumfeld, die abgekühlte Weltwirtschaft und die drohende milde Rezession die Schuldner vor neue Herausforderungen stellen. Zu diesem Schluss kommt der Swiss Rating Guide der Zürcher Kantonalbank, der die Bonität von nahezu 180 inländischen Unternehmens- und öffentlichen Schuldnern analysiert.

«Zum jetzigen Zeitpunkt können wir Entwarnung geben. Die aktuellen Herausforderungen wirkten sich bislang nicht auf die Bonität der Inlandschuldner aus», sagt Holger Frisch, Studienleiter und Teamleiter Credit Research bei der Zürcher Kantonalbank. Denn: «Wir folgen mit unserer Ratingvergabe einem Through-the-Cycle-Ansatz.» Das bedeutet, dass das Rating über einen normalen Konjunkturzyklus hinweg grundsätzlich stabil bleiben sollte. «Im Vergleich zu den internationalen Mitbewerbern zeichnen sich Schweizer Unternehmensschuldner zudem vielfach durch eine konservativere Kapitalstruktur aus und sind häufig führend in ihren Geschäftsfeldern.»

Dies widerspiegelt sich auch in den Ratings. Die Mehrheit der hiesigen Schuldner ist als sehr solide einzustufen. Acht Prozent der CHF-Inlandschuldner sind im AAA-Segment angesiedelt, mit 30 Prozent wird der Markt unverändert von Schuldnern im AA-Segment dominiert. Schuldner aus dem Non-Investment-Grade-Bereich mit einem tendenziell höheren Ausfallrisiko stellen 14 Prozent der Schuldner dar.

«Noch deutlicher zeigt sich die hohe Qualität beim ausstehenden Volumen», sagt Holger Frisch. Knapp 60 Prozent fielen auf die höchste Ratingklasse AAA, lediglich ein Prozent auf den Non-Investment-Grade-Bereich. Für Anlegerinnen und Anleger bedeute dies zwar nicht, dass jede Obligation eines Schweizer Emittenten bedenkenlos gekauft werden könne. Dennoch seien die Risiken eines Engagements aufgrund der hohen Qualität des Marktes im Durchschnitt deutlich geringer als bei Investitionen in anderen Anleihemärkten, fasst Frisch zusammen.

Ratingverteilung Gesamtmarkt (nach Anzahl Schuldner)

Quellen: Zürcher Kantonalbank, SIX

Auffällig sind jedoch die zahlreichen Ratingveränderungen. 22 Umstufungen hat das Research-Team in den vergangenen zwölf Monaten vorgenommen – so viele wie seit 2012 nicht mehr. Insgesamt wurden acht Emittenten herab- und 14 hochgestuft. Die Gründe? Der Analyst Holger Frisch betont folgende: «Das Marktumfeld für Versorgungsunternehmen hat sich aufgrund der gestiegenen Strompreise markant verbessert.» Dies zeigte sich bereits in den ersten Unternehmensabschlüssen. Da das Umfeld weiterhin positiv bleiben dürfte, erfolgten zahlreiche Ratingerhöhungen bei den Versorgern. Für Herauf- oder Rückstufungen seien auch unternehmensspezifische Entwicklungen ausschlaggebend gewesen, wie etwa operative Verbesserungen oder Akquisitionen.

Und auch die Outlooks haben sich wieder verbessert. Während über die vergangenen drei Jahre die negativen Ausblicke überwogen, sind diese im Vergleich zum Vorjahr von 22 Prozent auf zehn Prozent gesunken. Das Verhältnis von negativen zu positiven Outlooks ist erneut ausgeglichen, der Anteil an stabilen Bewertungen erhöhte sich auf 80 Prozent (Vorjahr 69 Prozent).

Outlook-Verteilung (nach Anzahl Schuldner)

Quellen: Zürcher Kantonalbank, SIX

CHF-Anleihemarkt wächst ungebremst

Gegenüber dem Vorjahr hat sich das Umfeld für Unternehmens- und öffentliche Schuldner fundamental verändert. Die fast acht Jahre dauernde Negativzinsphase, von der die Anleiheemittenten profitierten, ist beendet. Dennoch ist der deutliche Zinsanstieg kein Wachstumshemmnis für den CHF-Anleihenmarkt. Dieser setzte seinen positiven Trend fast ungebremst fort und erreichte Ende Mai 2023 mit 600 Milliarden Franken einen neuen Höchststand.

Das Inlandsegment ist massgebender Treiber, aber auch das Auslandsegment steuert aktuell 141 Milliarden Franken zum Rekordwert bei. «Die Finanzierungsbedingungen sind in der Schweiz real attraktiv, da die Inflation nach den bisherigen Zinsschritten der Schweizerischen Nationalbank immer noch über den Leitzinsen liegt, erklärt sich Holger Frisch das weiterhin starke Wachstum.

In unveränderter Reihenfolge befinden sich die drei grössten Schuldner Pfandbriefbank, Pfandbriefzentrale und Eidgenossenschaft weiterhin auf Wachstumskurs. Während die Top 3 rund 53 Prozent des gesamten Inlandmarkts ausmachen, kommen die Top 10 auf einen Anteil von 64 Prozent. Neu unter den Top 10 befindet sich an vierter Stelle die Credit Suisse (Schweiz) AG, die Ende 2022 eine Reihe von Covered Bonds, also gedeckte Schuldverschreibungen, emittiert hatte. Auf Rang acht ist Nestlé aufgrund einer Milliarden-Anleihe-Emission Anfang Juni 2023. Nicht mehr in den Top 10 vertreten sind die Basellandschaftliche Kantonalbank und der Kanton Zürich.

Bewegtes Jahr für den Industriesektor

Herr Knoblauch, mit welchen Herausforderungen sind Industrieschuldner konfrontiert?

Es war ein bewegtes, anspruchsvolles Jahr für den Industriesektor. Das dominierende Thema war das inflationäre Umfeld mit stark steigenden Inputpreisen. Wegen der geopolitischen Spannungen sind beispielsweise die Energiekosten um ein Mehrfaches gestiegen.

Grundsätzlich machen aber die Material- und Lohnkosten den grössten Teil der Gesamtkosten aus, sodass hier selbst eine kleine Kostenveränderung sehr schnell ins Gewicht fallen kann. Kann die Unternehmung die höheren Inputpreise nicht zeitnah an die Kundinnen und Kunden weitergeben, beeinflusst dies deren Finanzprofil. Schweizer Industrieunternehmen sind in ihren Bereichen typischerweise Technologieführer, was aber nicht immer mit Marktmacht gleichzusetzen ist. Die Profitabilität dürfte deshalb besonders bei Emittenten mit geringer Preissetzungsmacht, welche die höheren Inputpreise nicht direkt abwälzen können, volatil ausfallen.

Was bedeutet dies für Investorinnen und Investoren?

Aus der Kreditperspektive birgt die Entwicklung diverser operativer Kosten das Risiko, die Bonität einzelner Emittenten im Geschäftsjahr 2023 zu verschlechtern. Einzelne Emittenten wie OC Oerlikon oder Givaudan haben wegen drohender Profitabilitätseinbussen Effizienzprogramme angekündigt, um das Margenniveau und die Cashflow-Generierung aufrechterhalten zu können.

Welche weiteren Faktoren beeinflussen den Cashflow?

Nach der Pandemie kam es zu Lieferengpässen und zur Verknappung einzelner kritischer Komponenten. Angesichts der unsicheren Versorgungslage haben die Industrieunternehmen deshalb vorsorglich in den eigenen Lageraufbau investiert, um ihre Lieferfähigkeit sicherzustellen. Das Nettoumlaufvermögen hat dadurch zugenommen, sodass der Free Cashflow selbst bei Emittenten abnahm, wo er normalerweise über den Zyklus hinweg stabil bleibt. Gewisse Emittenten haben im Geschäftsjahr 2022 ihre Lieferfähigkeit höher gewichtet als die Optimierung des Nettoumlaufvermögens.

Welche Konsequenzen hat dies fürs laufende Geschäftsjahr?

Wir gehen davon aus, dass sich die Lagerbestände im 2023 tendenziell wieder normalisieren dürften, was das gebundene Cash im Nettoumlaufvermögen wieder freisetzt und folglich die Free Cashflows verbessert. Der Rückgang der Free-Cashflow-Generierung im 2022 dürfte daher ein temporärer Effekt gewesen sein und deutet nicht auf eine strukturelle Veränderung im Sektor hin.

Wie beurteilen Sie die künftigen Erfolgsaussichten des Sektors?

Trotz diverser Herausforderungen im vergangenen Geschäftsjahr haben sich die kreditrelevanten Kennzahlen innerhalb des Sektors grundsätzlich solide präsentiert. Auch die Geschäftsrisiken sind bis auf Einzelfälle dank der starken Marktstellung moderat.

Die Schweizer Industrieunternehmen sind wegen des kleinen Heimmarkts in der Regel international tätig und bieten hochwertige Produkte und Dienstleistungen für ausgewählte Nischenmärkte an. Die Wachstumsziele sind je nach Unternehmen unterschiedlich. Die Fokussierung auf profitable Nischenprodukte prophezeit dem Sektor trotz der erwarteten konjunkturellen Abkühlung mittelfristig grundsätzlich solide Wachstumserwartungen.

Worauf beruht diese Einschätzung?

Typischerweise ist die Umsatzentwicklung bei den Industrieunternehmen in der Veränderung der Auftragseingänge früh sichtbar. Gemäss Quartalsergebnissen für das 1. Quartal 2023 sind die Auftragseingänge besser als erwartet ausgefallen, sodass für den weiteren Geschäftsverlauf grundsätzlich gute Visibilität herrscht.

Wo sehen Industrieunternehmen Potenzial?

Generell verorten Industrieemittenten Potenzial im rasch wachsenden asiatischen Raum, speziell in China. Einige Emittenten haben daher entweder über strategische Zukäufe die Geschäftspräsenz in China ausgebaut, wie etwa Dätwyler oder Burckhardt Compression, oder mit Investitionsprogrammen ihre Kapazitäten stark erweitert. Dies war unter anderem der Fall bei SFS, Georg Fischer und Clariant.

Die geopolitischen Risiken solch finanzieller Engagements sind aber aktuell wieder vermehrt ins Blickfeld gerückt.

Wie können sich Unternehmen dagegen bestmöglich absichern?

Eine weit verbreitete Massnahme ist der Local-for-Local-Ansatz, bei dem das Geschäft im Land für das Land betrieben werden soll, beispielsweise in China für China. Ziel ist es, die gesamte Wertschöpfungskette lokal auszurichten. Sowohl die Kunden als auch die Zulieferer stammen ausschliesslich aus der Region, sodass weder bei der Technologie noch beim Know-how externe Abhängigkeiten bestehen.

Ungeachtet der politischen Situation würde dies ermöglichen, den chinesischen Markt theoretisch komplett aus den lokalen Werken heraus zu bedienen, da beim Local-for-Local-Ansatz auch der Export aus diesen Werken nicht vorgesehen ist. Ganz generell ist die Präsenz in einem spezifischen Land immer eine strategische Entscheidung.

Was bedeuten die aktuell steigenden Zinsen für die Emittenten?

Zurzeit ist dies für Industrieschuldner noch kein grosses Thema. Die meisten Emittenten weisen gut gestaffelte Fälligkeitsprofile auf dem Fremdkapital aus, sodass trotz stark gestiegener Zinsen die Refinanzierungskosten eine untergeordnete Rolle spielen. Refinanzierungsrisiken sind bisher auf Einzelfälle beschränkt. Wichtiger als die Optimierung des Finanzergebnisses ist die operative Verbesserung, denn dort haben Unternehmen einen weit bedeutenderen Hebel, um das Geschäftsergebnis zu verbessern.

Emittenten im Non-Investment-Grade-Segment dürften ihre Anleihen jedoch mit deutlich höheren Coupons finanzieren müssen. Aus Fremdkapitalsicht ist zudem die Ausschüttungspolitik ein wichtiges Thema, denn eine stark aktionärsfreundliche Dividendenpolitik kann die Bonität einzelner Emittenten einschränken.

Lohnt es sich im aktuellen Umfeld, in Anleihen zu investieren?

In den letzten Jahren war es wegen der Negativzinsen schwierig, attraktive Renditen auf Industrieanleihen zu erzielen. Bondinvestoren mussten auf tiefere Ratingqualitäten mit höherem Kreditrisiko oder längere Laufzeiten mit erhöhtem Zinsänderungsrisiko ausweichen.

Die im vergangenen Jahr von den Zentralbanken eingeleitete Zinswende war folglich ein wichtiger Renditetreiber und machte Industrieanleihen wieder attraktiv. Zu beachten ist jedoch, dass die Renditeveränderung nicht nur vom allgemeinen Zinsniveau, sondern auch vom Renditeaufschlag, den Credit Spreads, stammt. Aufgrund des grossen Nachfrageüberhangs sind die Renditeaufschläge bei Industrieanleihen im historischen Vergleich sehr tief, sodass die Anleihen grundsätzlich teuer sind.

Swiss Rating Guide

Der Swiss Rating Guide ist seit über 20 Jahren Pflichtlektüre für institutionelle Fixed-Income-Investoren, die in Anleihen von CHF-Inlandschuldnern investieren wollen. Die diesjährige Ausgabe deckt nahezu 180 Inlandschuldner ab, was rund 96 Prozent des ausstehenden Anleihevolumens in der Schweiz entspricht. Die Credit Analysten der Zürcher Kantonalbank geben für alle relevanten Inlandschuldner ein Credit Rating ab. Ziel des Ratingprozesses ist es, eine Bonitätseinschätzung über den Konjunkturzyklus hinaus abzugeben. Neben quantitativen Daten fliessen in das Rating auch qualitative Bewertungen wie die Beurteilung des aktuellen Branchenumfelds oder die Analyse der Wettbewerbsposition sowie des Managements ein.

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