Frei erfunden: «Der Halb-Kopf»

Nicht ganz und doch vollkommen – Autor Stefan Bachmann macht in seiner Kurzgeschichte Mut, sich nicht zu verstecken.

Text: Stefan Bachmann / Illustration: Luca Schenardi und Lina Müller | aus dem Magazin «ZH» 2/2021

Illustration einer Schnecken und anderen Tieren im Wald

Im Jahre 1872, in Langnau, unter den Birken beim Fluss, wurde ein halbes Kind geboren: ein halber Kopf, ein halber Körper, ein Bein und ein kurzer, dünner Arm. Man konnte direkt in seinen Schädel schauen, die halbe Zunge sehen, den labyrinth­artigen Knorpel seiner Nase, sein Gehirn wie eine zweigeteilte Walnuss. Die Mutter erschrak, als sie ihn zum ersten Mal erblickte. Das gesamte Dorf wusste nichts mit ihm anzufangen. Ein halbes Kind! Doch nicht ganz, nicht mal ganz halb, denn Philos Herz war vollkommen intakt, und als er wuchs, tat es ihm weh, die Menschen seines Dorfes zu sehen, wie sie alles doppelt hatten, zwei Augen und zwei Ohren, und ihre Köpfe dicht wie Teekannen, die Gedanken schön verpackt und verborgen.

Mit einem halben Kopf kann man nichts verbergen. Wenn Philo sich etwas überlegte, konnte es jeder sehen, seine Gedanken wie einen Schwarm juwelenfarbener Insekten, die aus seinem Gehirn hervorkrochen. Wenn er neidisch war, sickerte eine Prozession grünlicher Schnecken um die Windung seines Ohrs. Ein Geheimnis zu bewahren war für ihn unmöglich; denn egal was er versuchte, um es einzufangen, tanzte es in Form eines Tausendfüsslers spöttisch über seinen Nasenrücken. Am schlimmsten war, wenn er sich einsam fühlte, was nicht selten vorkam. Dann spriessten die Ranken, dunkelgrün, zwischen seinen offengelegten Rippen und streckten sich verzweifelt über den Boden zu den Menschen um ihn herum. Nicht einmal seine Eltern sahen das gern und wünschten sich, sie hätten ein Kind bekommen, welches sie nicht so gut kennen müssten.

Als Philo zu einem jungen Mann heranwuchs, begann er sich zu fragen, ob er das nicht alles ändern könnte, ob er nicht eine zweite Hälfte aus Holz, Drähten und Zahnrädern bauen könnte, die alles in ihm einschliessen würde, alles schön verpacken und verbergen, wie bei den anderen Bewohnern im Dorf auch. «Wäre ich nur so wie sie», dachte er, «dann wäre ich der glücklichste Mensch auf Erden. Dann wäre ich nicht mehr allein.»

Somit kamen der Ehrgeiz und der Fleiss. Philo begann wundersame Geräte aus Messing und Zinn zu bauen, verkaufte sie in der Nach­barschaft und dann in anderen Kantonen. Seine Eltern starben. Er wurde sehr reich in seinem einsamen Haus. Und abends, wenn er fertig war mit seinen täglichen Geschäften, arbeitete er fieberhaft daran, sich selbst zu vervollständigen. Er formte eine Porzellanmaske für die fehlende Seite seines Gesichts – Mund geschlossen, Glasauge dicht, so dass die lapisblauen Motten nicht mehr hervorblitzen konnten –, einen mechanischen Arm und ein Ebenholzbein. Er kaufte sich eine ­feine Jacke aus rotem Samt und eine Perücke aus silbernem Rosshaar.

Illustration einer halben Gesichtsmaske mit Auge

Er legte sich auch eine schwarze Kutsche zu und fuhr immer wieder fort damit, doch was er suchte, wusste er nicht. Er war nicht glücklicher als zuvor. Wenn er durch die Täler und Wälder strich, wenn er die Bauern sah und sie ihn anstarrten, hatte er immer noch Angst, dass sie eine abtrünnige Schnecke an seiner Stirn sehen würden oder dass sie merken würden, dass sein Glasauge mit dem Geräusch von Drähten blinzelte, und nur, wenn er einen kleinen Auslöser mit den Fingern zusammenklemmte. Selbst in fernen Städten, selbst wenn er seine vorzüglichsten Kleider und die teuerste Perücke trug, war er sich nie sicher. «Nichts auf Erden ist ganz», wisperten die Motten im Inneren seines Schädels, «nicht einmal das schön Verpackte. Sperr dich nicht dafür weg.» Doch er wagte es nicht, ihnen zuzuhören.

Eines Tages, als er in seiner Kutsche in einem fernen Dorf unterwegs war, die glänzenden Pferde ihn durch die schlammigen Gassen ziehend, entdeckte er jemanden, der ebenfalls nur halb war: ein Bettler, sehr alt, in der Gosse liegend. Philo sah die müden grauen Gedanken aus dem Kopf des Bettlers flittern, und sein Herz füllte sich mit Freude beim Anblick. Er lehnte sich aus dem Fenster und rief nach dem Bettler, laut und heiter. Die Mottenflügel pochten gegen das Innere seines Porzellangesichts, gegen das dichte Ohr und die Wölbung seines Glasauges. Doch der Bettler sah nur einen edlen Herrn in einer silbernen Perücke, zwei prächtige, blinzelnde Augen und eine Jacke aus rotem Samt. Und so wandte er sich ab, widmete sich weiter seinen streunenden, käferartigen Phantasien, und Philo fuhr in seiner Kutsche fort, die Ranken zwischen seinen Knöpfen herauswachsend, und aus dem Fenster, und hinter ihm über die Erde schlängelnd wie schwache grüne Wurzeln.

Serie «Frei erfunden»

Der Kanton Zürich bietet Inspiration zu vielen Geschichten – zu wahren und zu erfundenen. 

In der Serie «Frei erfunden» bieten wir Schriftstellerinnen und Schriftstellern mit einem Bezug zu Zürich eine Plattform. Sie schreiben für uns eine Kurzgeschichte, die mit passenden Illustrationen inszeniert wird.

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