Männer und Morde

Oder: Das einsiedlerische und aufregende Leben der Marguerite Toma (1922 – 1956). Aus der Enzyklopädie der literarischen Alpentouristik, Band 3.

Text: Michael Hugentobler / Illustrationen: Elena Knecht | aus dem Magazin «ZH» 2/2022

Illustration zur Kurzgeschichte von Michael Hugentobler

Sie war nicht einsam, aber sie war oft allein. Das brauchte sie für ihre Kreativität. Ihre Kriminalromane schrieb sie langsam und virtuos. Die Bücher waren voll von grandiosen Wendungen und dramaturgischen Fallstricken. Sie war Spezialistin für hoch komplizierte Morde, gemeinhin wurde ein Verbrechen von einem Doppelgänger begangen. «Der eiserne Wald» (1942) wurde in drei Dutzend Sprachen übersetzt. «Das Grand Vivek Hotel» (1946) erreichte dreiundachtzig Auflagen. «O du mein Herz, mein schwellendes Herz» (1951) wurde im Lauf der Jahre zum meistimitierten Kriminalroman aller Zeiten. Marguerite Toma bekam alle wichtigen Literaturpreise verliehen, allein damit verdiente sie ein Vermögen.

Keinen Preis nahm sie persönlich entgegen, sie mied die Öffentlichkeit wie der Maulwurf das Licht. Interviews gab sie nicht. Aufgrund des Erfolgs der Autorin waren die Literaturkritiker gezwungen, über ihre Bücher zu schreiben. Kaum jemand schaffte es aber, einen der Romane komplett zu lesen und so sind die damaligen Zeitungsberichte voller Fehler: Hauptcharaktere werden als Nebenfiguren bezeichnet; es ist von Schauplätzen die Rede, die in den Büchern gar nicht vorkommen; vermeintliche thematische Schwerpunkte sind Fehlinterpretationen.

In der Regel fiel das Urteil vernichtend aus: «einfältiges Geschwafel», «sinnesverwirrende Banalität» oder «plumpe Erotik» waren Wortpaare, die oft benutzt wurden. Diese Fallhöhe von rekordhohen Verkaufszahlen und miserablen Kritiken führte dazu, dass sich Linguisten in ihren Doktorarbeiten mit einem Phänomen beschäftigten, das sie irgendwann als «tomaeskes Paradox» bezeichneten.

Je mehr die Journalisten das Werk dieser brillanten Literatin vernichteten, umso mehr begannen sie, sich für ihr Privatleben zu interessieren. Halbwahrheiten wurden publiziert, die zwar im Konjunktiv geschrieben und als Gerüchte deklariert waren, aber mit einer sadistischen Regelmässigkeit in den Feuilletons erschienen, sodass sie irgendwann als Wahrheiten galten und den Weg in Nachschlagewerke fanden.

Die Schönheit der Autorin wurde als eine Mischung aus Marlene Dietrich und Greta Garbo beschrieben – eine tollkühne Übertreibung. Ihr Wohnort wurde fälschlicherweise immer mit Paris bezeichnet. Ihre Staatsbürgerschaft mit Amerika, obwohl sie Kanadierin war. Dass sie sich mit achtzehn Jahren auf eine Reise nach Europa gemacht hatte, war allerdings korrekt.

Illustration zur Kurzgeschichte von Michael Hugentobler

Nach ihrem frühen Tod wurde offiziell bekannt, dass diese Reise in die Schweiz geführt hatte: in die Zürcher Gemeinde Fischenthal, in ein abgelegenes Haus, das von Bäumen umwuchert gewesen war. Katzen, ein Hof voller Hühner und ihr herbeifabulierter Detektiv namens Mister Edmund leisteten ihr ein Leben lang Gesellschaft. Ebenfalls nach ihrem Tod kam eine Truhe voller Briefe zum Vorschein, die unter dem Fussboden versteckt gewesen war, und in diesen Briefen war dokumentiert, was sich in Künstlerkreisen längst herumgesprochen hatte: Als Schriftstellerin war Marguerite Toma nicht gerade in die Welt hinausgegangen (mit Ausnahme der Reise nach Fischenthal), aber die Welt war zu ihr gekommen.

In der Truhe liegen bis heute Fotos, die Toma an der Seite von Salvador Dalí zeigen, von Dora Maar, von Lee Miller und Pablo Picasso. Alle sind – nun ja – Nacktfotos. Marguerite Tomas Leben war eine einzige Aneinanderreihung von heftigen Affären und Szenen der Eifersucht. Ein sehr berühmter Schriftsteller, Kriegsheld und Freizeit-Torero der damaligen Zeit beklagt sich in einem der Briefe darüber, dass Toma mitten in der Nacht «gerade von der Muse geküsst» worden sei und ihn aus dem Haus geworfen habe, und er habe dann «in diesem gottverlassenen Kaff» bis zum Morgengrauen unter einer Strassenlaterne auf den ersten Zug warten müssen.

Ein anderer Liebhaber bedankt sich für die Bahnfahrkarte erster Klasse von Fischenthal nach Mailand, und insbesondere für die Überraschung beim Zwischenhalt in Zürich. Offenbar hatte Toma aus dem Hotel Dolder in Zürich ein Frühstück aus Kaviar und erlesenen exotischen Früchten bestellt, das von einem Hotelpagen zum Bahnhof gefahren, unter einer silbernen Glocke quer durch die Empfangshalle getragen und dem Herrn im Abteil seines Waggons serviert worden war. An der Stelle, wo der Liebhaber schrieb, dass das doch ziemlich viel gekostet haben müsse, hinterliess Toma eine Notiz, vermutlich als Gedankenstütze für ihre Antwort: «Ich weiss nicht, was Geld ist, und es interessiert mich auch nicht.»

Über die letzten zwei Jahre der überragenden Schriftstellerin ist wenig bekannt. Ein berühmter Landschaftsmaler will sie immer wieder auf Wanderungen in den Appenzeller Alpen gesichtet haben, in Gedanken versunken. Es gibt ein paar Tagebucheinträge, in denen sie die Vermutung äussert, ihr aktuelles Werk folge «allzu konventionellen Mustern» (es ging um das Faust-Motiv und die Suche nach dem Vater).

Starb vermutlich an Erschöpfung. Vom unvollendeten letzten Werk sind sagenhafte siebenundvierzig Versionen vorhanden. In jeder Version ist der Mörder ein weiterer Doppelgänger seines Doppelgängers. Es ist – gelinde gesagt – leicht verwirrend. Die Kritiker waren heilfroh, das Werk nicht besprechen zu müssen. Ein paar Briefe von Verehrern kamen noch an, danach herrschte Schweigen.

Serie «Frei erfunden»

Der Kanton Zürich bietet Inspiration zu vielen Geschichten – zu wahren und zu erfundenen. 

In der Serie «Frei erfunden» bieten wir Schriftstellerinnen und Schriftstellern mit einem Bezug zu Zürich eine Plattform. Sie schreiben für uns eine Kurzgeschichte, die mit passenden Illustrationen inszeniert wird.

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