Ortswechsel

Mit jedem Jahreszeitenwechsel verändern sich die Orte und mit den Orten auch die Menschen. Rebecca Gisler schreibt in ihrer Geschichte über grosse und kleine Veränderungen und die Kindheitserinnerungen, die man damit hinter sich lässt.

Text: Rebecca Gisler / Illustration: Eleanor Taylor | aus dem Magazin «ZH» 3/2023

Die schulfreien Wintertage verbrachten die Geschwister bei einer abgelegenen Hütte, an deren Dachrinne sich Eiszapfen bildeten. Am Baum neben der Hütte war eine Schaukel angebracht. Die Fenster der Hütte waren von innen durch Vorhänge abgedeckt, was auf menschliches Leben hätte hindeuten können, jedoch war in all den Jahren noch nie ein Mensch in der Nähe der Hütte gesehen worden. Je höher der Schnee lag, desto näher lag das Dach der Hütte an der Schneeoberfläche, sodass die beiden Kinder vom Schnee aufs Dach klettern und sich vom Dach in den Schnee fallen lassen konnten. An manchen Tagen spielten sie mit Skirennfahrfiguren aus Plastik, die die beiden Kinder im Schnee verschwinden liessen, um sie dann wieder auszugraben. Eines Abends, als sich die Geschwister auf den Weg nach Hause machen wollten, merkten sie, dass eine der Figuren fehlte. Ergebnislos wühlten sie die Schneedecke auf, bis sie sich erschöpft entschlossen, erst am nächsten Tag weiterzusuchen. Am nächsten Tag war die Skirennfahrfigur aber wieder nicht zu finden. Und so blieb es, den ganzen Winter bis Mitte März.
Mitte März hatte die Mutter einen grossen Umzug angekündigt und die Kinder hatten die Ausgrabungen aufgegeben. Hie und da ruhten sie sich aus und schauten auf die Nebeldecke, unter der sich das kleine Dorf verbarg, das Dorf, in das sie bald ziehen würden. Und als es endlich Frühling geworden war und auf den Ästen des bis anhin völlig trockenen Baumes, an dessen klare Konturen vor einem hellen Hintergrund man sich seit vielen Monaten gewöhnt hatte, grüne Knospen auftauchten, als die Nachbarn nach Jauche und saurer Milch rochen, als sich die Umzugskisten vor dem Haus stapelten, gingen die Geschwister ein letztes Mal zur Hütte und setzten sich auf die Schaukel. «Man sagt, dass ein Vogel mit den Flügeln schlägt, um vorwärtszukommen, und dass dabei der Wind immer auf den schwersten Teil seines Körpers trifft, das heisst auf den Unterbauch, auf das Herz», sagte das eine Kind. «Oder auf den grossen Zeh», sagte das andere Kind, welches sich bückte und in jenem Moment von der Schaukel aus zwischen der Fensterscheibe und dem Vorhang der Hütte die verloren geglaubte Skirennfahrfigur stehen sah. Das Kind erschrak und sagte zu seinem Geschwister: «Jetzt lass uns ins Dorf ziehen.»

Infobox

Rebecca Gisler (32) studierte am Schweizerischen Literaturinstitut in Biel. Sie hält einen Master in «Création littéraire» der Universität Paris. Ihr Debütroman «Vom Onkel» (2022, Atlantis), den sie auf Deutsch und Französisch verfasste, wurde für mehrere Literaturpreise nominiert. Rebecca Gisler lebt in Zürich.

Serie «Frei erfunden»

Der Kanton Zürich bietet Inspiration zu vielen Geschichten – zu wahren und zu erfundenen. 

In der Serie «Frei erfunden» bieten wir Schriftstellerinnen und Schriftstellern mit einem Bezug zu Zürich eine Plattform. Sie schreiben für uns eine Kurzgeschichte, die mit passenden Illustrationen inszeniert wird.

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