Der Gourmet-Tempel

Sie ist Humms Untergang, die Fleischeslust. Genauer: das unbeirrbare Verlangen seiner Gäste nach Cordons bleus. Autor Lukas Linder über einen Gastronomen, der nach Höherem strebt – und auf dem Boden der Tatsachen landet.

Text: Lukas Linder / Illustrationen: Klub Galopp | aus dem Magazin «ZH» 1/2023

Illustration zur Geschichte von Lukas Linder

Er hatte von Cordons bleus geträumt. Riesigen Fleischleibern, die wie Ufos am Himmel oben kreisten. «Diabolo», «Hawaii», «Rezent», «Tschau Sepp» und «Vegi». Geschmolzener Käse tropfte in gigantischen Batzen auf die Erde, wo die Menschen schreiend auseinanderstoben. Eine Gruppe Unglücklicher, zu denen auch Humm gehörte, reagierte nicht schnell genug. Sie ertranken jämmerlich in lauwarmem Alpkäse. Dann wachte er schweissgebadet auf und hörte sein Handy «It’s lonely at the top» quengeln. Es war Landauer vom «Ritterhof».

«Morgen, Humm. Hab ich dich geweckt?»

«Nein.»

Es war bekannt, dass Landauer jeden Morgen um vier in der Früh aufstand, um auf dem Bauernmarkt all die regionalen Spezialitäten einzukaufen, für die seine Küche berühmt war.

«Wie geht’s denn so, was machen die Geschäfte?», fragte Landauer jovial.

«Kann nicht klagen», krächzte Humm und schluckte einen zähen Pfropfen Schleim herunter. Wieder musste er an den Alpkäse denken.

Landauer lachte.

«Ich will dich auch gar nicht lange aufhalten. Doch ich habe eine Information, die dich interessieren könnte.»

«Du hast angefangen mit Wurzelgemüse zu experimentieren?»

«Es ist ein Restaurant-Kritiker in der Region unterwegs.»

«Was?»

«Wie man hört, kommt er dieser Tage nach Embrach.»

Humm hatte das «Rössli» in Embrach vor zwei Jahren übernommen. Davor war es eine Pizzeria gewesen, davor ein Thai-Restaurant, davor auch eine Pizzeria. Humm, der davor ein Dreisternehotel in den Bergen zur allgemeinen Zufriedenheit ausser seiner eigenen geleitet hatte, sah hier die Chance, einen lang gehegten Traum zu verwirklichen: Gastronom in einem Gourmet-Tempel zu sein. Kleine Karte, verwegene Menüs, horrende Preise. Die Bewohner der beschaulichen Kleinstadt waren vermögend und besassen Geschmack. Und am Hügel thronte wie ein Versprechen das ehrwürdige Schloss Teufel, für das sich einmal sogar Thomas Gottschalk interessiert haben soll. Doch Humm hatte die Rechnung ohne den Wirt gemacht, der in diesem Fall der Gast war. Oder anders gesagt: die Dorfgemeinschaft. Die wollte von seinen Saucenemissionen und molekularen Geschmacksexplosionen nämlich nichts wissen. Auch der Dresscode kam nicht gut an, genau wie die Information an der Eingangstüre «Keine Vereine». Da auf dem Land praktisch jeder in einem Verein war, hätte er genauso gut «Keine Menschen» schreiben können. Endgültig verdorben hatte er es sich mit den Leuten aber durch seine Weigerung, das Cordon bleu in die Speisekarte aufzunehmen. Erbittert hatte er dagegen angekämpft, und als er endlich fiel, war es schon zu spät. Die Leute blieben weg, das «Rössli» mit seinem neuen Wirt war bereits zu einem Unort geworden. Oder wie es in der lokalen Sprache hiess: «Dorthin geht man nicht.»

Illustration zur Geschichte von Lukas Linder

Er musste seinen Spitzenkoch entlassen und durch einen umgelernten Stromer mit Drogenvergangenheit ersetzen, der beim Bewerbungsgespräch behauptete, auch schon mal ein Spiegelei zubereitet zu haben. Auch vom Serviceteam hatte er sich getrennt. Jetzt bediente er selbst. Es kam ja sowieso kaum noch wer, abgesehen von einer entrückten Witwe, die ihren Schmerz in literweise Averna ertränkte, und einem älteren Herrn, der mit sich selbst redete und seit Monaten dieselben Sachen anhatte. Wenn niemand mehr kam, kamen die Verzweifelten. Zu denen zählte Humm jetzt auch. Bis zu diesem Tag.

Echtes Kerzenlicht reflektierte sich in den abenddunklen Fensterscheiben. Der umgelernte Stromer hatte sich rasiert und eine weisse Schürze angezogen, in der er fast so patent aussah wie die beiden Frauen vom Servicepersonal. Es handelte sich um die Freundin des Stromers und eine Kollegin aus dem Nachbardorf. «Ich fördere gerne junge Talente», würde Humm erzählen, woraufhin der Stromer, wie abgemacht, mit seiner phänomenalen Mütze auf dem Kopf in der Gaststube erscheinen würde. Das sollte sein einziger Auftritt an dem Abend bleiben. Humm hatte ihm ausdrücklich verboten, auch nur in die Nähe des Herds zu kommen. Er würde das Kochen selbst über­nehmen. Und die beiden deprimierenden Stammgäste? Das waren ehrwürdige Freunde des Hauses. Die traurige Witwe war eine vermögende Mäzenin, der monologisierende Greis ein Dichter, der im «Rössli» die letzten Stanzen seines Altersepos setzte. Und inmitten all des schönen Scheins empfinge Humm, Gastronom, in seinem Gourmet-Tempel.

Sie kamen zu zweit. Humm erkannte sie sofort. Ein Mann mit schulterlangem grauem Haar und eine etwas jüngere Dame mit Kurzhaarfrisur. Er gab ihnen den besten Tisch und sein breitestes Grinsen, bevor er ihnen das Menü zeigte, das er am Nachmittag entworfen hatte.

  • Taschenkrebs mit Gänsemastleber an einem Traubenschaumtraum mit Chadouilly
  • Nüssli-Salat mit Double-Kaviar
  • Wagyu an rückwärts geflogenem Heimweh-Honig, Zweifel-Chips
  • Innereientopf «Annelies» – in der Nierenschale serviert, Julienne-Kartoffeln, Gemüse-Meditation
  • Ingwereis auf der Rinderzunge, Mango-Melancholie, Gefrorene Tränen

Es war nur Essen. Humm aber kam es so vor, als wäre es sein Leben, das auf diesem kleinen Blatt Papier geschrieben stand.

Der grauhaarige Mann las das Menü. Dann schob er das Blatt sanft zur Seite.

«Wir hätten gerne zweimal das Cordon bleu.»

Serie «Frei erfunden»

Der Kanton Zürich bietet Inspiration zu vielen Geschichten – zu wahren und zu erfundenen. 

In der Serie «Frei erfunden» bieten wir Schriftstellerinnen und Schriftstellern mit einem Bezug zu Zürich eine Plattform. Sie schreiben für uns eine Kurzgeschichte, die mit passenden Illustrationen inszeniert wird.

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