Hieronymus gibt nicht auf

Diese Geschichte beginnt mit einem Verlust. Ihr Ende findet sie im Aufbruch. Feinfühlig erzählt die Zürcher Schriftstellerin Seraina Kobler die Geschichte eines Mannes, der wieder ins Leben findet.

Text: Seraina Kobler / Illustration: Julia Krusch | aus dem Magazin «ZH» 3/2022

Eine Illustration zeigt ein startendes Flugzeug, das Kondensstreifen am  Himmel hinterlässt

Hieronymus legte sich ganz nahe an die Flugzeugpiste. Er blickte in den Himmel, der trotz der frühen Stunde schon mit Kondensstreifen bemalt war. Dann donnerte die Boeing 747 nach Rio de Janeiro über ihn hinweg und er konnte hören, wie die Räder hochgeklappt wurden, nachdem sie vom Boden abgehoben hatte. Für ein Augenblinzeln lang fühlte es sich an, als würde ein Teil von ihm ebenfalls in der kerosingeschwängerten Luft verschwinden.

Mit zitternden Beinen klopfte er sich die Grashalme von der karierten Hose, band seine abgetragene Schürze wieder um, stellte sich zurück an den Grill, wo es nach heissem Frittierfett, Currywurst und Filterkaffee roch, den er tagsüber seit eh und je in grossen Kannen ausschenkte. Bald darauf begann sich der weitläufige Parkplatz an der Autostrasse zu füllen, Stative klackerten und Objektive wurden aufgeschraubt. Es gab keinen besseren Platz, um die Flugzeuge zu fotografieren. Manchen mochte der Ort trostlos vorkommen, nicht zum Leben gemacht, eine Passerelle im Nirgendwo, dröhnende Motoren von allen Seiten, nicht zum Verweilen; ausser unter dem Zelt mit den Stehtischen vor Hieronymus’ Imbiss, gleich neben der öffentlichen Toilette, das im Sommer vor der Sonne schützte und im Winter vor Schnee und Eis. Doch all das störte Hieronymus nicht.

Zwischen den schnurgeraden Landebahnen gab es Rehe, Füchse und unzählige Feldhasen, die nachts umherhoppelten. Wenn der Flughafen leuchtete, ein dichtes Geflecht am Rande der Stadt, das alle Energie in sich aufzusaugen schien, dann überkam ihn das gleiche Gefühl, wie wenn er sich unter einen der Strommasten stellte, deren Arme weit in den milchigen Himmel reichten. Wenn sich das Knistern anhörte wie fallender Regen.

Doch Martha hatte nicht mehr gewollt. Sie hatte den Pakt gebrochen, den sie doch nie laut ausgesprochen hatten. War man nicht ein Leben lang zusammen, um im Alter nicht allein zu sein? «In Rio stirbt es sich besser als in Opfikon», hatte sie einige Wochen zuvor verkündet. Dann liess sie die Schlagkugel auf ihr Frühstücksei fallen und köpfte es exakt an der ringförmigen Bruchstelle – und begann zu löffeln.

Eine Illustration zeigt Waren auf einem Kassenlaufband

Hieronymus war daraufhin in den Keller gegangen. Er zündete die Glühbirne an, die von der unverputzten Decke hing, setzte sich an die Werkbank und schaltete den Lötkolben ein, um den kaputten Toaster zu reparieren. Er stellte sich vor, wie er sonntags allein am gedeckten Tisch sitzen würde. Vielleicht würde er nicht einmal unbedingt Martha vermissen, sondern das Leben, zu dem sie gehört hatte. Nichts Besonderes, eine kleine Wohnung am Rande des Neubaugebiets, mit Blick auf den künstlichen See, wo Kinder im Winter die Enten fütterten und sich im Sommer auf Gummibooten umhertreiben liessen. Hefezopf am Sonntag, Hähnchen immer mittwochs und Waschtag alle zwei Wochen. Immer gleich.

Als die Drähte wieder glühten und der Duft von gerösteten Brotkrumen aufstieg, die auf den Boden des Geräts gefallen waren, kam ihm eine Idee. Er öffnete das Holzgitter zum Abstellraum –und tatsächlich: Die beiden Fahrräder von ihrer Weltreise waren noch da. In die Jahre gekommen, wie sie selbst auch. Die nächsten Wochen schlich er sich jede Nacht hinunter und arbeitete an seinem Plan.

Als Hieronymus an diesem Tag, der frühe Herbst trieb erstes Laub übers Land, die Containertüre zum Imbiss verriegelte, beschloss er, nicht gleich heim in die nun stille Wohnung am Rande des Neubaugebiets zu gehen. Die langen Flure in der Abflughalle glänzten frisch geputzt, es roch nach Parfüm und warmer Lüftung. Hieronymus ging in den Einkaufsladen, der hier jeden Tag geöffnet war, und beobachtete, was die Leute auf das Laufband an der Kasse legten. Er überlegte sich, woher sie kamen und zu wem sie gingen. Selbst kaufte er nur einen Becher Erdbeerjoghurt und einen Cervelat, je einzeln, nicht das Duo, was ihm an der Kasse einige Probleme einbrachte, da ein einzelner Becher und eine einzelne Wurst anscheinend nicht im System zu erfassen waren. Er tippte ein wenig auf dem Bildschirm hin und her, dann zahlte er achselzuckend dennoch für zwei.

Die Uhr zeigte halb acht, Zeit für die Tagesschau, normalerweise. Er schlug den Kragen seiner Jacke hoch und machte sich auf den Weg, den Feldern entlang, über denen feuchte Nebelschwaden hingen. Er rechnete die Uhrzeit nach und dachte an die Copacabana, an frittierte Hühnerherzen und Sand, der zwischen den Zehen kitzelte. Dann hörte er das leise Surren eines Fahrrads.

Serie «Frei erfunden»

Der Kanton Zürich bietet Inspiration zu vielen Geschichten – zu wahren und zu erfundenen. 

In der Serie «Frei erfunden» bieten wir Schriftstellerinnen und Schriftstellern mit einem Bezug zu Zürich eine Plattform. Sie schreiben für uns eine Kurzgeschichte, die mit passenden Illustrationen inszeniert wird.

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