Frei erfunden: «Kaspar»

Die Schriftstellerin Julia Weber schreibt über Räume, Rüben, Rillen – und den Mittelpunkt der Welt.

Text: Julia Weber / Illustration: Luca Schenardi und Lina Müller | aus dem Magazin «ZH» 1/2021

Illustration eines Sees

Kaspar zieht seine müden Füsse über das Karottenfeld. Sein Feld liegt mitten in Brüttisellen und Brüttisellen ist der Mittelpunkt seiner Welt. Kaspar weiss, Brüttisellen liegt genau in der Mitte des Kantons Zürich, «wie das Eigelb im Ei», sagt manchmal seine Frau. Kaspar mag das Wort Zürich nicht sehr. Es klingt ihm mehr nach Metall und Asphalt, nach Stadt, als nach seinen Feldern, nach dem Geruch des Strohs, nach dem Mähen, am Abend, kurz vor dem Gewitter. Zürich klingt nach klarer Suppe in einem kargen, grossen Raum und mit einem Kellner mit französischem Akzent, mit steifem Hals auch. Zürich klingt nach einer Stadt, die sich als Mittelpunkt des Kantons versteht, als Mittelpunkt der Schweiz, ja manchmal hat er das Gefühl, Zürich mit seinen Wänden aus Marmor und Kaffee mit Muster im Schaum, mit seinem teuren Boden, und unter dem Boden das Gold und die Menschen, die von weit her reisen, um auf diesem Boden zu stehen, manchmal hat er das Gefühl, diese Stadt hielte sich für den Mittelpunkt der Welt. Damen, die am Paradeplatz sitzen und ihren Kaffee aus Porzellan trinken, die Damen, die ihre Beine übereinanderschlagen und viel Stoff an den Röcken und manchmal dreht eine ein Bein, wie ein Löffelchen im Tee. So hatte es seine Frau erzählt, die einmal dort gewesen war. Dort in der Stadt Zürich. Sie hatte eine Kiste der schönsten Erdbeeren zu einer reichen Witwe im Seefeld gebracht und dort seien sie gesessen die Damen und hätten ihre Beine wie Löffelchen im Tee gedreht. Dabei, dachte Kaspar bei sich und stolperte mit seinen müden Füssen über das Feld, dabei war Brüttisellen der Mittelpunkt des Kantons und auch der Welt. Es gab Tausende von Rüben. Es gab die Rillen in den Feldern. Der Herbst legte sich langsam in die Erde, in die Bäume, die Gesichter. Auch sein Gesicht. Sein Bart begann sich rostrot zu färben. Die Mäuse im Morgennebel auf den Feldern und hinter ihnen lauernd die Katzen. Schöne, kräftige Katzen. Dachte Kaspar und hatte das Ende des Feldes erreicht. Er betrat die Stube seines Hauses, am Kamin sass seine Frau und drehte das Bein, als sie ihn sah, wie ein Löffelchen im Tee.

Serie «Frei erfunden»

Der Kanton Zürich bietet Inspiration zu vielen Geschichten – zu wahren und zu erfundenen. 

In der Serie «Frei erfunden» bieten wir Schriftstellerinnen und Schriftstellern mit einem Bezug zu Zürich eine Plattform. Sie schreiben für uns eine Kurzgeschichte, die mit passenden Illustrationen inszeniert wird.

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