«Wir wollen dazu animieren, kritisch zu denken»

Die Beschäftigung mit der Zukunft ist für Simone Achermann, Mitgründerin des Zürcher Thinktanks W.I.R.E., Beruf und Berufung. Im Interview sagt sie, wieso Antizipation eine Grundstrategie des Lebens ist, welche Herausforderungen uns erwarten und weshalb auch sie sich manchmal nach mehr Einfachheit sehnt.

Interview: Patrick Steinemann / Bilder: Simon Habegger | aus dem Magazin «ZH» 2/2021

Simone Achermann, W.I.R.E. (Bild 2)
Simone Achermann: «Unerwartetes ist meist unangenehm, hält uns aber auch wach.»

Im Moment wollen wir alle nur eins: Das Virus endlich hinter uns lassen. Streben wir dabei nur nach vorne in eine vermeintlich bessere Zukunft?

Nein, in Zeiten der Unsicherheit wächst eher die Sehnsucht nach Stabilität und Sicherheit. Der Wunsch, in eine Welt zurückzukehren, die wir kennen, ist grösser, als uns auf das Neue einzulassen. Jedoch ist in der Pandemie vielen Menschen bewusst geworden, dass Zukunft immer Unerwartetes bereithält. Und dass wir uns intensiver damit beschäftigen müssen, was kommen könnte. Grundsätzlich hat der Mensch seit jeher ein ambivalentes Verhältnis zur Zu­kunft. Die Aussicht auf Veränderung und neue Chancen bestärkt uns in unserem heutigen Tun. Das Bevorstehende birgt aber immer auch Risiken und Gefahren: Wir können erreichte Privilegien oder Besitztümer verlieren.

Malen wir immer zu schön, wenn wir uns nach der Zukunft sehnen?

Eine Sehnsucht nach der realen Zukunft haben wohl nur die wenigsten. Zukunftsträume – ob in Film oder Literatur – handeln meist nicht von einer realen Welt, sondern von einem exotischen Zukunftsort, einer Alternativ­welt, wo der Traum vom Idealzustand wahr wird.

Ob ideal oder real: Entscheidend ist, dass wir uns die Zukunft überhaupt vorstellen können.

Für den Menschen mit seinem Grosshirn, das Situationen einschätzen kann, ist Antizipation essenziell, ja eigentlich die Grundstrategie des Lebens. Wenn wir nur reagieren, sind wir immer in einer schlechteren Position, als wenn wir uns im Voraus auf menschliche Verhaltensweisen, mögliche Situationen oder sich verändernde Rahmenbedingungen einstellen. Antizipation hat aber auch ihre Tücken: Ich weiss nicht, ob das, was ich erwarte, auch tatsächlich eintrifft. Oder ob ich mich fälschlicherweise anpasse.

Erkennen, was kommt: Das ist auch das Kerngeschäft des Thinktanks W.I.R.E., den Sie mitgegründet haben. Wie arbeiten Sie?

Wenn wir uns bei W.I.R.E. mit einem neuen Thema befassen, schauen wir die relevanten Makrotrends – das sind die grossen langfristigen Entwicklungen – sowie neu aufkommende Trends an, die als deren Folge entstehen. Dann prüfen wir, welche Auswirkungen diese Trends auf einen Sektor, zum Beispiel das Gesundheitssystem, haben und wie relevant sie sind. Dabei richten wir unser Augenmerk besonders auch auf sogenannte «Blind Spots», also Aspekte, die bisher nicht oder kaum auf dem Radar der Wahrnehmung erschienen. Schliesslich übersetzen wir das Thema in konkrete Handlungsfelder, etwa für Unternehmen, mit denen wir zusammenarbeiten.

Sehen Sie sich dabei auch als Impulsgeber?

Ja. Wir möchten unsere Mitmenschen und Organisationen ermutigen, sich auf das Neue einzulassen und über den Tellerrand ihrer Vorstellungswelt und ihres Einflussbereichs zu blicken. Wir wollen auch dazu animieren, kritisch zu denken, Hypes zu hinterfragen und nicht ­jedem Trend hinterherzurennen – etwa der Vorstellung, dass Technologie all unsere Probleme lösen wird. Dadurch soll den Menschen auch bewusst werden, dass die Zukunft nicht schon angekommen ist, sondern dass wir alle sie mitgestalten können.

Welche Rolle spielen Daten bei Ihrer Arbeit?

Wir arbeiten bei W.I.R.E. nicht primär nach quantitativen Prinzipien, wir werten also nicht massenhaft Daten aus. Vielmehr bilden wir qualitative Modelle, mit denen wir die Rahmenbedingungen und Bedürfnisse der Zukunft abbilden. Dafür analysieren wir diverse, auch bereichsferne Einflussfaktoren und ihre möglichen Chancen und Herausforderungen.

Daten und Algorithmen steuern aber schon unser halbes Leben.

Daten werden je länger je mehr zur Grund­infrastruktur unseres Lebens. Das heisst aber nicht, dass Daten eine Antwort auf alles sind. Vor allem gilt es zu definieren, was wir mit den erhobenen Daten wollen und wie wir sie als Ressource sinnvoll nutzen. Ohne eine klare Vorstellung generieren Daten nur bedingt einen Mehrwert.

Simone Achermann, W.I.R.E. (Bild 3)
Simone Achermann: «Wenn wir keine Fehler mehr machen, lernen wir auch nichts Neues, dann bleiben wir stehen.»

Weisen die Daten denn überhaupt den Weg nach vorne?

Die Schwierigkeit liegt darin, dass Daten zwangsläufig vergangenheitsorientiert sind. Dadurch besteht das Risiko, dass wir als Gesellschaft eher rückwärtsgewandt werden und an Innovationsfähigkeit verlieren. Wenn wir uns nur auf die Empfehlungen von Algorithmen stützen, verharren wir in den gleichen Verhaltensmustern, wir begegnen dem Neuen nicht und verfangen uns in einer Endlosschlaufe.

Auf welche Treiber hinter den globalen Entwicklungen sind Sie bei Ihrer Arbeit gestossen?

Die Welt verändert sich nicht über Nacht. Die grossen Kräfte werden deshalb noch etwa die gleichen sein, die uns schon seit zwanzig Jahren antreiben: digitale Transformation, steigende Lebenserwartung, zunehmender Wohlstand, fortschreitender Klimawandel, Machtverschiebung nach Asien.

Auch wenn die Antriebskräfte gleich bleiben: Die Herausforderungen werden nicht kleiner. Wo müssen wir besonders genau hinschauen?

Wir haben in unserer Arbeit diverse Brennpunkte lokalisiert. Dazu gehören etwa die Klärung der Interaktion zwischen Mensch und Maschine oder die Neudefinition und der Schutz von Privatheit. Aber auch die Überforderung des Menschen durch immer mehr Informationen und neue Lebensmodelle oder die ­Sicherung von Lebensqualität im Kontext der steigenden Anzahl lebensstilbedingter Krankheiten. Und natürlich die Herausforderungen durch die Klimakrise und der Aufbau einer nachhaltigen Wirtschaft und Gesellschaft.

Beginnen wir bei den Maschinen: Wann lösen sie uns als Arbeitskräfte ab?

Wahrscheinlich nie. Wir sind überzeugt, dass auch in Zukunft nur einfache und repeti­tive Prozesse automatisiert werden können. Komplexe Fragestellungen können nur bedingt maschinell gelöst werden. Dasselbe gilt auch fürs Handwerk: In der Kleiderherstellung sind bereits viele Prozesse automatisiert, aber auch dem besten Nähroboter gelingt es bis heute nicht, ein ganzes Kleidungsstück zusammenzunähen. Es braucht hier immer noch die menschliche Hand, um etwas so vermeintlich Ein-faches wie eine Hose zusammenzufügen.

Auch Assistenzsysteme, die auf Algorithmen basieren, sind Maschinen.

Hier müssen wir uns einen sinnvollen Umgang aneignen. Die digitalen Helfer zeigen uns den richtigen Weg, geben uns Tipps beim Einkaufen oder schlagen uns den passenden Partner vor. Durch eine Vorauswahl reduzieren sie die Komplexität für uns. So können wir teilweise bessere und raschere Entscheidungen treffen. Auch könnten sie langfristig zu kollektiven Verhaltensänderungen beitragen, etwa beim Klimaverhalten oder bei der Gesundheit.

Aber?

Die Kehrseite ist, dass wir durch diese Systeme auch eine Reduktion der Auswahl haben: Wir wählen nur noch aus einer relativ kleinen Blase heraus. Dazu kommt ein Kompetenzverlust, wenn wir bei Entscheidungen teilweise gesteuert werden. So verlieren wir vielleicht nach und nach unseren Orientierungssinn, wenn wir uns immer durch Navigationsassistenten leiten lassen. Wir verlernen dabei aber auch, wie man überhaupt Entscheidungen trifft und in welchen Momenten wir vielleicht auf unser Bauchgefühl vertrauen sollten. Dadurch vergrössert sich auch das Risiko, dass wir manipuliert und zu unmündigen Bürgern werden.

Ob gut oder schlecht: Diese datenbasierten Systeme sind schon längst in unseren eigenen vier Wänden angekommen.

Ja, und hier kommen wir zum zweiten Brennpunkt: der Privatheit. Es ist zwingend, dass wir eine ethische und gesetzliche Grundlage finden für eine datenbasierte Welt. Die zentrale Frage ist, wem alle diese Daten gehören. Wir müssen hier den Spagat schaffen, datenbasierte und personalisierte Systeme zu nutzen und gleichzeitig unsere Privatheit besser zu schützen. Eine Lösung wäre etwa, den ­Daten je nach Persönlichkeitsgrad einen ­bestimmten Wert beizumessen – als Gegenleistung für das Preisgeben von Information.

Diese Systeme und Informationen ermöglichen es uns aber auch, unser individuelles Lebensmodell zu wählen.

Und gerade diese Wahlfreiheit ist es, die viele Menschen überfordert. Denn wir können – oder müssen – nicht nur unser Arbeitsleben und die Karriere gestalten, sondern auch ein Familienmodell wählen und viele weitere ­Dinge aktiv bestimmen. Es ist deshalb essenziell, dass sich die Menschen – teilweise schon in der Schule – zusätzliche Entscheidungskompetenzen aneignen.

Trotz all dieser Entscheidungen war unsere Lebensqualität noch nie so hoch wie heute. Und doch sehen Sie Wolken am Horizont?

Einerseits hat Corona gezeigt, wie verletzlich wir sind. Andererseits hat es eine weitere wichtige Herausforderung im Bereich Gesundheit überschattet: die wachsende Zahl an Menschen, die an Herz-Kreislauf-Problemen, Krebserkrankungen, Diabetes oder mentalen und psychischen Erkrankungen leiden. Häufig sind diese Krankheiten abhängig von unserem Lebensstil. Auffallend ist, dass früher vor allem ältere Menschen an solchen Krankheiten litten, heute aber immer mehr junge – auch die vielversprechende Generation der Millennials, die überdurchschnittlich gut ausgebildet ist und als äusserst gesundheitsbewusst gilt. Wir müssen uns also fragen: Was ist Lebensqualität? Wie ist Lebensqualität mit einem hohen Alter zu vereinbaren? Wie kann die Gesellschaft dazu gebracht werden, besser auf sich achtzugeben? Welches sind die Aufgaben von Regierungen und Unternehmen in diesem Bereich?

Die Umwelt- und Klimathematik haben Sie erst als letzten Ihrer Brennpunkte genannt. Absichtlich?

Ja. Denn die Klimaveränderung ist die ­Herausforderung der Zukunft. Klar ist: Wir können nicht so weitermachen wie bisher. Das Problem des Ressourcenverbrauchs wird sich weiter verschärfen. Stichworte sind der steigende Konsum in den Schwellenländern, die Urbanisierung, verdichtetes Wohnen, punk­tuelle Bevölkerungszunahme und gestiegene Hygieneansprüche. Jetzt gilt es, den angerichteten Schaden in den nächsten Jahren ­wieder geradezubiegen – wenigstens ein Stück weit.

Ihr Lösungsansatz?

Der Schlüssel liegt in der Verhaltensänderung – von uns allen! Gleichzeitig gilt es, unsere bebaute Umwelt so zu gestalten, dass sie uns bei unserem Ziel der Nachhaltigkeit unterstützt. Eine Möglichkeit ist die Kreislaufwirtschaft, verbunden mit einer veränderten Produktion. Das bedeutet, dass alle Materialien schon bei der Herstellung darauf ausgelegt werden, dass sie später wieder auseinandergenommen oder abgebaut und so wiederverwertet werden können. In jedem Material oder Bauteil wäre also schon seine Zukunft angelegt. Es sind aber noch einige Hürden zu nehmen. Etwa die Reduktion der Kosten dieser Materialien. Zudem verlangt eine solche Wirtschaftsform einen hohen Grad an Kooperation, vom einzelnen Haushalt über Unternehmen bis hin zu staatlichen Organisationen.

Manchmal scheint der Drang zur Erneuerung und Flexibilität in der Wirtschaft und Gesellschaft fast zwanghaft.

Sich anzupassen ist auch eine Grundstrategie des Lebens – für den Menschen, ein Unternehmen oder eine Gesellschaft. Wichtig ­dabei ist aber, dass wir unsere Kernwerte und -funktionen kennen und schützen, also eine ­Balance finden zwischen Adaption und Bewahrung. Das heisst, wir dürfen das grosse Ganze und unseren langfristigen Auftrag nicht aus den Augen verlieren. Wenn man ständig auf der Suche ist nach der neuesten Veränderung, wird das dem Geschäft kaum zuträglich sein. Dasselbe gilt für eine Anpassung ohne Masterplan.

Gehört Mut dazu, nach vorne zu blicken?

Ja. Das Unerwartete ist meist unangenehm, es hält uns aber auch wach. Es sind die Abweichungen von der Norm, welche das Lebendige im Menschen befeuern. Wenn wir keine Fehler mehr machen, lernen wir auch nichts Neues, dann bleiben wir stehen.

Blitzt bei Ihnen nie ein konservativer Gedanke auf?

Doch, natürlich. Daran ist aber nichts Falsches. Wir sollten das Wissen und die ­Erfahrungen, die wir uns über Jahrzehnte und Jahrhunderte angeeignet haben, nicht einfach über Bord werfen. Das ist die Gefahr des disruptiven Denkens. Und es ist auch nicht alles besser, was neu ist. Gewisse Dinge waren früher entspannter. Heute können wir uns der ständigen Verfügbarkeit kaum mehr entziehen. Wir müssen unzählige Entscheidungen treffen, wo wir früher ein überschaubares und dadurch wertvolles Angebot hatten. Nach dieser Einfachheit sehne auch ich mich manchmal.

Zur Person

Simone Achermann ist Mitgründerin und Chief Editor beim unabhängigen Zürcher Thinktank W.I.R.E. Sie beschäftigt sich mit Entwicklungen und Trends in Gesellschaft, Wirtschaft und Kultur und ist Autorin und Herausgeberin diverser Publikationen. Simone Achermann (43) hat am University College London Kulturwissenschaften studiert und mit einem Master in European Culture abgeschlossen.

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