«Unsere Wirtschaft funktioniert durchaus mit einem kleineren Wachstum»

Genug wäre eigentlich genug – wäre da nur nicht dieser ökonomische Zwang zum Mehr: Im Interview spricht der Volkswirtschafter Mathias Binswanger über gesättigte Märkte und materielle Überforderung, Pseudovielfalt und relative Bedürfnisse. Und über das persönliche Glück der Genügsamkeit.

Interview: Patrick Steinemann / Bilder: Philip Frowein | aus dem Magazin «ZH» 3/2023

Volkswirtschafter Mathias Binswanger von der Fachhochschule Nordwestschweiz
«Mit mehr Besitz führen wir nicht automatisch ein besseres Leben»: Professor Mathias Binswanger lehrt an der Fachhochschule Nordwestschweiz in Olten.

Herr Binswanger, wann haben Sie das letzte Mal gesagt: Das genügt mir, mehr benötige ich nicht?

Das sage ich eigentlich ständig, denn ich bin eher ein Konsummuffel, kaufe nicht gerne ein. Solange vorhandene Dinge funktionieren, mache ich mir keine Gedanken darüber, neue anzuschaffen. Wenn es nur Menschen wie mich gäbe, läge die Wirtschaft wohl schon lange am Boden (lacht).

Gibt es denn gar nichts, wovon Sie nicht genug kriegen können?

Vielleicht vom Reisen. Da treibt mich die Neugier immer wieder von Neuem an, und ich mag es, Orte zu entdecken, die ich noch nicht kenne.

Wir Menschen sind doch paradoxe Wesen: Wir könnten mit wenig auskommen, trotzdem streben wir immer nach mehr …

In Ländern wie der Schweiz ist der Schlüssel zum Glück meist nicht der Besitz materieller Dinge. Mit mehr Besitz führen wir nicht automatisch ein besseres Leben. Und doch werden wir zum Konsum getrieben. Die Unternehmen bringen ständig neue Produkte auf den Markt. Und wir werden dazu verleitet, uns mit anderen zu vergleichen und etwas Besseres haben zu wollen. Das ist harte Arbeit für die Anbieter in einem gesättigten Markt. Aber sie zahlt sich aus: Der Konsum wächst seit Jahren an, nur selten gibt es Einbrüche wie etwa während der Coronapandemie.

Ökonom und Glücksforscher

Mathias Binswanger ist Professor für Volkswirtschaftslehre an der Hochschule für Wirtschaft der Fachhochschule Nordwestschweiz (FHNW) in Olten und Autor mehrerer Bücher («Der Wachstumszwang», «Die Tretmühlen des Glücks»). Er erforscht die Bedeutung des Wachstums in modernen Wirtschaften und fragt nach dem Zusammenhang von Einkommen und persönlichem Glück.

Wir schaffen ein Überangebot in der Multioptionsgesellschaft – und sind dann überfordert bei der Auswahl. Wie passt das zusammen?

Mehr Vielfalt suggeriert immer auch, dass es noch etwas anderes, Attraktiveres gibt. Doch aus der Freude an der Wahl kann rasch eine Qual der Wahl werden. Eine Auswahl freut die Menschen, wenn das Angebot überschaubar ist und es vernünftige Kriterien für die Kaufentscheidung gibt. Wenn ich mich jedoch unter Zeitdruck für ein Angebot entscheiden muss, das ich gar nicht durchschaue, dann macht mich das unglücklich.

Zum Beispiel der Frust vor dem Joghurtgestell mit der unüberschaubaren Anzahl an Geschmacksrichtungen.

Genau. Die Anbieter kreieren häufig eine Pseudovielfalt, indem sie die Zahl der Produkte künstlich erhöhen und uns so zum Ausprobieren neuer Sorten animieren. Viele dieser Produkte verschwinden jedoch nach kurzer Zeit wieder, weil sie sich im Markt nicht durchsetzen können.

In Ihrem Buch «Der Wachstumszwang» beschreiben Sie, dass unser Wirtschaftssystem alles tut, um die Sättigung der Märkte zu verhindern und immer neue Bedürfnisse zu schaffen. Sind wir damit Gefangene unseres selbst geschaffenen Systems?

Lange Zeit war das kein Thema. Die Menschen strebten nach einem besseren Leben und kamen meist auch zu mehr materiellem Wohlstand. Heute sind diese Bedürfnisse weitgehend erfüllt, zudem ist unsere Gesundheit besser, wir leben länger. Erst langsam erkennen wir, dass es nicht mehr wir Konsumenten sind, die die Wirtschaft mit unseren Bedürfnissen vorantreiben. Sondern die Wirtschaft, die uns antreibt mit ihren Anforderungen für mehr Wachstum.

Wenn nicht Gefangene, dann also zumindest Getriebene. Ausweg ausgeschlossen?

Die kapitalistische Wirtschaft, wie wir sie seit dem Ende der industriellen Revolution kennen, funktioniert nur, wenn sie wächst. Denn die Gewinne der Unternehmen sind an dieses Wachstum gekoppelt. Und die Unternehmen sind gezwungen, Gewinne zu realisieren, um zu überleben. Ein Stagnieren auf einem bestehenden Niveau ist hier keine Option. Denn wenn nicht eine Mehrheit der Unternehmen Gewinne erzielt und damit die Dynamik weiter nach oben treibt, entsteht eine Dynamik nach unten, es kommt zu einem Schrumpfungsprozess. Wenn Firmen weniger Gewinn erzielen als andere, werden sie abgehängt und gehen früher oder später in Konkurs. Sie fallen damit auch als Nachfrager für Investitionsgüter weg, dadurch erhalten wiederum andere Unternehmen Probleme, es kommt zu Entlassungen und so weiter. Das Wachstum rührt also nicht daher, dass die Menschen so unersättlich oder die kapitalistischen Unternehmen so gierig sind, sondern es ist letztlich ein Erfordernis des Systems.

Trotzdem ist Wachstum für viele eine Frage von gut oder schlecht.

Über lange Zeit wurde das Wirtschaftswachstum als etwas Positives gesehen, weil es
einen enormen allgemeinen Wohlstand mit sich brachte. Das hat sich geändert. Heute sehen wir zunehmend die erheblichen Probleme, die das Wachstum mit sich bringt, etwa im Bereich Umwelt und Klima. Das Wachstum wird deshalb verstärkt infrage gestellt.

Volkswirtschafter Mathias Binswanger in einem Gebäude der Fachhochschule Nordwestschweiz
«Wenn es nur Menschen wie mich gäbe, läge die Wirtschaft wohl schon lange am Boden»: Mathias Binswanger in der Fachhochschule Nordwestschweiz in Olten.

Ein unendliches Wachstum in einer endlichen Welt – ein unlösbares Dilemma?

Dieser Widerspruch hat sich über lange Zeit nicht so gezeigt, weil das Wachstum lokal war und immer neue Orte mit Ressourcen entdeckt und erschlossen wurden. Heute sind wir jedoch in einer globalen Wachstumswirtschaft angelangt, wo sich auch die Probleme global stellen. Das Dilemma wird also tatsächlich immer grösser …

… und der Ruf nach einer Entkopplung von Wachstum und Ressourcenverbrauch lauter.

Aktuell zelebrieren wir die Illusion, dass wir das Wachstum entkoppeln können vom Rohstoffverbrauch und den Umweltemissionen – Stichwort: Klimaneutralität. Das ist aber nicht so einfach, wie wir es uns vorstellen. Wir sehen das auch an den aktuellen Zahlen zum weltweiten Energieverbrauch und den CO2-Emissionen – die steigen weiter an. Eine Entkopplung mag zwar scheinbar funktionieren, wenn wir in der Schweiz die Klimaneutralität anstreben und unsere lokalen Emissionen reduzieren; wir vergessen dabei aber die graue Energie, die in allen Produkten steckt und die wir mit importieren.

Wirtschaft und Nachhaltigkeit – eine problematische Paarbeziehung?

Es ist sicher möglich und richtig, dass sich die Wirtschaft weiter Richtung Nachhaltigkeit bewegt. Wir dürfen uns nur nicht blenden lassen, etwa bei der Umstellung auf erneuerbare Energien. Auch die Herstellung von Windrädern und Solaranlagen ist sehr materialintensiv. Netto-Null ist eine viel grössere Herausforderung, wenn sämtliche Faktoren miteinbezogen werden.

Kann die Wirtschaft selbst zu mehr Nachhaltigkeit finden oder muss die Politik Paartherapeutin sein?

Die Wirtschaft tendiert ohne Einflussnahme von aussen immer zu einem möglichst starken Wachstum. Politische Eingriffe sind also unausweichlich, wenn etwas verändert werden soll. Es braucht hier Massnahmen auf verschiedenen Ebenen, etwa über die Preisfestlegung oder die Besteuerung des CO2-Ausstosses.

Erst wenn ich verzichte, habe ich nachher auch Freude beim Stillen meiner Bedürfnisse.

Mathias Binswanger

Politische Entscheidungen bedeuten oft Verpflichtungen oder Verbote.

Es gibt auch liberalere, wirtschaftsnahe Ideen und Modelle, um Ziele zu erreichen, etwa Lenkungsabgaben. Am Ende resultiert ein Mix.

Können auch technische Innovationen Schub verleihen für mehr Nachhaltigkeit?

Grundsätzlich schon. Allerdings: Auch technische Innovationen werden entwickelt, um damit Gewinne zu erzielen, sie sind genauso Teil der Wachstumswirtschaft. Der Green New Deal wird uns als Win-win-Situation verkauft. Doch ich bin sehr skeptisch, ob das so einfach funktioniert.

Und die Digitalisierung? Kann sie dazu beitragen, Materialflüsse und Schadstoffe zu reduzieren, ohne unseren Konsum zu bremsen?

Sie kann sicher einen Beitrag dazu leisten. Nicht vergessen dürfen wir aber den sogenannten Rebound-Effekt: Wenn etwas effizienter und einfacher erhältlich wird, wird es auch billiger. Damit steigt wiederum die Nachfrage bei den Konsumentinnen und Konsumenten. Und schon hat sich der Gewinn für die Umwelt wieder reduziert.

Modelle eines alternativen Wirtschaftens suchen den Gewinn auf beiden Seiten. Etwa die Kreislaufwirtschaft, die das System der Verbrauchs- und Wegwerfgesellschaft ablösen will und auf Wiederverwertung setzt.

Die Kreislaufwirtschaft ist ein Teil der Bestrebungen zur Entkopplung von Ressourcenverbrauch und Umweltemissionen. In einem gewissen Umfang lässt sich dieses Modell sicher realisieren. Allerdings beinhaltet es auch den Aspekt der Suffizienz, also das Halten eines gewissen Niveaus und das Setzen von Grenzen. Und dies passt nicht in unser Wirtschaftssystem.

Mit weniger auskommen will auch die sogenannte «frugale Innovation». Diese propagiert einfachere Produkte mit weniger Funktionen. Sie sollen weniger ressourcenintensiv sein und trotzdem die Kundenbedürfnisse befriedigen. Ist das die Zukunft?

Ich glaube nicht, dass dieses Modell funktioniert, zumindest nicht in unserer westlichen Welt. Denn die Wirtschaft ist ja gerade darauf ausgerichtet, dass sie immer noch mehr verspricht. Zwar erhöhen mehr Funktionen tatsächlich nicht unbedingt den Nutzen von Produkten. Oft resultieren stattdessen sogar mehr Komplexität und Nachteile für die Konsumentinnen oder Benutzer, etwa wenn in einer Küche nicht mehr auf Anhieb klar ist, wie ein Herd bedient werden muss. Allerdings geht es oft gar nicht darum, ob die Benutzer die Funktionen auch tatsächlich benötigen. Mit den zusätzlichen Funktionen ist mehr Prestige verbunden, sogar in einer Küche. Es werden also relative Bedürfnisse adressiert; wir wollen andere beeindrucken durch Produkte, die uns gar nicht mehr bringen.

Können wir den ökonomischen Imperativ des «Immer-Mehr» etwas mässigen?

Ja, und ich glaube auch, dass das nötig ist. Denn unsere Wirtschaft funktioniert durchaus mit einem kleineren Wachstum. Das zeigt etwa Japan, das wirtschaftlich seit Jahrzehnten nur sehr wenig wächst, aber trotzdem eine erfolgreiche Nation ist. Allerdings bedingt das auch, dass wir unsere Ansprüche bezüglich Rendite etwas herunterschrauben.

Herunterfahren und Mass halten: Ist das auch die richtige Devise für uns Individuen?

Ja, das ist durch Studien belegt: In hoch entwickelten Ländern werden Menschen mit zusätzlichem Wirtschaftswachstum nicht zufriedener. Gemäss dieser Erkenntnis würde es bei uns keinen Sinn mehr machen, immer noch mehr materiellen Wohlstand anzustreben. Unter dem Gesichtspunkt der Nutzenmaximierung wäre mehr Freizeit ökonomischer.

Das persönliche Glück durch Genügsamkeit – tönt nach einem Ratgebertitel …

… und stimmt doch. Für viele wäre mehr Genügsamkeit wohl effektiv ein grosses Glückspotenzial. Vor allem, wenn ich sie kombiniere mit gelegentlichem Verzicht. Denn erst wenn ich verzichte, habe ich nachher auch Freude beim Stillen meiner Bedürfnisse. Es ist kein Zufall, dass alle Kulturen und Religionen Elemente des Verzichts, des Fastens oder der Enthaltung kennen. In unserem heutigen Alltag ignorieren wir diese Erkenntnis jedoch meist. Stattdessen zielen alle Botschaften des besseren Lebens auf ein «Noch-Mehr». Und es wird ständig postuliert, dass gut nicht gut genug ist. Trotzdem laufen wir mit unzufriedenen Gesichtern durch unsere Luxuswelt.

Haben Sie für sich den Weg gefunden zum bescheideneren Glück?

Wie eingangs gesagt, hilft es mir, dass ich nicht so anfällig bin für materielle Versuchungen. Viel wichtiger für mein persönliches Wohlbefinden sind soziale Kontakte und eine erfüllende und sinnstiftende Arbeit.

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