«Es ist nötig, unsere Gesellschaft neu zu denken»

Erleben wir nach der Pandemie Goldene Zwanzigerjahre? Jein, sagt Philipp Blom: Der Historiker und Philosoph erkennt zwar durchaus Parallelen zwischen den 1920er-Jahren und heute – Grund zu feiern sieht er aber nicht.

Interview: Simona Stalder / Bilder: Peter Rigaud | aus dem Magazin «ZH» 3/2021

Philipp Blom vor einer Hauswand
Philipp Blom: «Wir stehen nicht am Ende einer Katastrophe, sondern am Anfang.»

Philipp Blom, hinter uns liegen bald zwei Jahre Pandemie. Wir sehnen ihr Ende herbei und wollen all unsere Freiheiten zurück. Worauf freuen Sie sich?

Ich freue mich auf unbeschwerte und gleichzeitig etwas beschwerlichere Reisen – darauf, wieder andere Horizonte zu sehen und neue Erfahrungen zu machen. Es würde mich jedoch freuen, wenn Reisen ohne Billigflüge auskäme, überhaupt der Tourismus nicht mehr ein zentraler Faktor dabei wäre, den Klimawandel zu befeuern und Reiseziele zu ruinieren. Ich wünsche mir, dass Reisen wieder öfter eine Reiseerfahrung mit sich bringt – wie etwa eine lange Zugreise durch Europa.

Reisen steht für viele ganz oben auf einer Liste mit Dingen, die sie nach der Pandemie nachholen wollen. Auch der Soziologe Nicholas Christakis («Apollow’s Arrow», 2020) prophezeit deshalb ein Wieder­aufleben der Goldenen Zwanzigerjahre: Auf die Pandemie folge eine Phase des Hedonismus, des wirtschaftlichen und kulturellen Aufschwungs. Was ist dran an dieser These?

Wenn es um die Feststellung geht, dass nach einer Pandemie in einigen Teilen dieser Welt schon einmal kräftig gefeiert worden ist, mag sie zutreffen. Sie ist mir aber zu einfach und tönt wie: Zwanzigerjahre hier, Zwanzigerjahre da, damals Pandemie, heute Pandemie – fertig ist der historische Vergleich.

Worin liegt der grösste Unterschied zwischen damals und heute?

Man findet in den kulturellen Produkten der 1920er- und 1930er-Jahre – seien es persönliche Dokumente, Romane oder Filme – kaum Spuren der Spanischen Grippe. Weil sie, auch wenn sie gesamthaft mehr Menschen das Leben gekostet hat als der Erste Weltkrieg, für viele die kleinere Katastrophe gewesen ist. Die Folgen des Ersten Weltkriegs sind dagegen heute noch spürbar. In Deutschland bereiteten die Erfahrungen des Krieges und insbesondere die deutsche Niederlage den Boden für die Propaganda der Nationalsozialisten, was zum Zweiten Weltkrieg und später zur Spaltung der Welt in ein westliches und ein östliches Lager führte. Die Folgen dieser politischen Verwerfungen sehen wir noch heute am Beispiel Afghanistans. Kurz: Der Erste Weltkrieg hatte einen gigantischen Nachhall, die Pandemie nicht. Heute messen wir der Pandemie eine viel grössere Bedeutung bei.

Corona hat andere wichtige Themen wie die Klimaerwärmung zeitweise fast vollständig aus den Medien verdrängt. Wir sind wie gebannt.

Die Coronapandemie ist in unseren postindustriellen, reichen Gesellschaften das erste schlimme Ereignis, das die Menschen kollektiv betrifft. Sie hat sozusagen die grosse Party unterbrochen, die wir seit Jahrzehnten feiern. Gleichzeitig begreifen wir mehr und mehr, dass dieser konsumorientierte, hedonistische Lebens­stil uns unsere Lebensgrundlagen entzieht. Wir stehen, anders als die Menschen der 1920er-Jahre, nicht am Ende einer Katas­trophe, sondern an deren Anfang. Golden werden diese Zwanzigerjahre nicht.

Wird uns die Covid-Pandemie im Vergleich zur Klimaerwärmung einmal ähnlich un­­be­deutend erscheinen wie die Spanische Grippe den Menschen des 20. Jahrhunderts?

In einigen Jahrzehnten ohne Zweifel. Die Wetterphänomene, die Europa diesen Sommer heimgesucht haben, waren ein Vorgeschmack dessen, was auf uns zukommt: die Fluten in Deutschland, die über 180 Menschen das Leben kosteten, die Hagelstürme, die Schäden in Millionenhöhe anrichteten, die verheerenden Brände in Südeuropa. Das entspricht dem, was Wissenschafter vor 50 Jahren vorausmodelliert haben. Der Klimawandel vollzieht sich – Europa war davon bisher mehrheitlich indirekt betroffen und unsere Länder sind noch reich genug, um seine Folgen abzufedern. Aber wir merken: Sie konkretisieren sich.

Philipp Blom in einem Park, im Hintergrund ein Gebäude
Philipp Blom: «Wir müssen endlich begreifen, dass wir nicht über der Natur stehen.»

Hagel, Hochwasser, Feuer – zeigt sich der Klimawandel nicht auch bei uns schon länger, wenn auch subtiler?

Ich habe gerade Zeit auf dem Land verbracht. Dort sieht man die Wälder, die durch den Borkenkäfer, der ja auch eine indirekte Folge des Klimawandels ist, zugrunde gehen. Und man realisiert, wenn man frühmorgens mitten in der Natur sitzt, dass man keinen einzigen Vogel mehr hört, weil es ihnen schlicht an Nahrung fehlt. Studien belegen, dass drei Viertel der Insekten verschwunden sind. Es sind apokalyptische Szenarien, die sich hier vollziehen. Der Zustand der Welt, in der wir momentan leben, ist im Allgemeinen ungleich katastrophaler, als diese Pandemie es im Besonderen ist. Und wenn es stimmt, dass das Coronavirus von Fledermäusen auf den Menschen überging, ist die Pandemie auch eine direkte Folge unseres Zugangs zur Natur, bei dem wir immer tiefer in natürliche Habitate vordringen, um sie auszubeuten.

Was heisst das für unsere Gesellschaft, unser Lebensmodell?

Wir erleben gerade, wie sich das Axiom unserer Welt, nämlich ewiges Wirtschaftswachstum, gegen uns wendet. Wie ein Weltbild zusammenbricht. Wie es ist, in Gesellschaften zu leben, deren Modell nicht mehr zukunfts­fähig ist. Wie es auf einmal nötig ist, unsere Gesellschaft, unsere Wirtschaft neu zu denken. Und wie eine ältere Generation ihre moralische Autorität verliert. Das ist eine Erfahrung, die wir mit den im Ersten Weltkrieg traumatisierten Menschen der 1920er-Jahre teilen. In der Debatte ist das nur noch nicht angekommen – obwohl Figuren wie Greta Thunberg neue Instanzen verkörpern.

Die Pandemie hat gezeigt, dass wir uns einschränken können, wenn wir müssen. Hat sie dem Klimaschutz etwas über den vorübergehenden Rückgang des weltweiten CO₂-Ausstosses hinaus gebracht?

Davon bin ich überzeugt, denn sie hat einen Automatismus durchbrochen. Bisher galt: Die Märkte sind unantastbar. Und dann wurden sie von einem Tag auf den anderen verändert, weil ein politischer Wille bestand, dies zu tun. Das ist für mich ein unglaublich wichtiger Präzedenzfall. Nun kann niemand mehr sagen, dass wir nicht können, denn wir haben es getan. Auf einmal auch intellektuell diesen Handlungsspielraum zu bekommen und zu begreifen, es ist tatsächlich an uns, etwas zu verändern, ist ganz wichtig.

Um die globale Erwärmung einzudämmen, müssen wir unsere Wirtschaft grundlegend umbauen und dies möglichst schnell. Wie gelingt uns das?

Es braucht mehr politischen Druck von unten. Es muss gelingen, eine ausreichend grosse Mehrheit von Menschen von der Notwendigkeit klimapolitischer Massnahmen zu überzeugen. Denn wir brauchen staatliche Massnahmen, die unser Verhalten in sinnvolle Bahnen lenken, zum Beispiel eine wirkungsvolle CO2-Steuer. Sind solche Leitplanken definiert, ist es auch für Unternehmen einfacher, ihren Beitrag zu leisten. Es gibt viele Wirtschaftstreibende, die den Klimaschutz konstruktiv mittragen wollen. Aber sie brauchen Planungssicherheit. Einen interessanten Standpunkt verfolgt Joseph Stiglitz. Er fordert, in eine Kriegswirtschaft einzutreten. Was er damit meint, ist: Wir sollten alle ökonomischen Aktivitäten unter den Imperativ stellen, diese Transformation zu schaffen.

Das klingt nach Planwirtschaft.

Im Gegenteil, es birgt wirtschaftliche Chancen, gerade für ein reiches Land wie die Schweiz. Und das ist wichtig: Liberale Demokratien brauchen Institutionen, die weltanschauliche Fundamente wie Freiheit und Menschenrechte verteidigen – und diese kosten Geld. Ohne eine robuste Wirtschaft, die das tragen kann, geht es nicht.

Wie würde eine solche «Kriegswirtschaft» denn aussehen?

Wagen wir das Gedankenspiel: Sagen wir, es gäbe eine Volksabstimmung und die Schweiz beschlösse, innerhalb von 15 Jahren CO2-neutral zu werden. Also wäre die gesamte Wirtschaft, die gesamte Industrie, der gesamte Transport umzustellen und die Infrastruktur zu schaffen, die es dafür benötigte. Sicher: Das wäre ein umfassender Green New Deal, der unendlich viel kosten würde. Gleichzeitig würde er aber unendlich viele Arbeitsplätze schaffen sowie neue Technologien und Expertisen hervorbringen, die auf der ganzen Welt gebraucht würden. Es wäre eine echte Transformation, die nicht nur Verzicht bedeuten, sondern auch Chancen bringen würde.

Das Stichwort Arbeitsplätze bringt uns zu einer weiteren Parallele zwischen den Zwanzigerjahren des letzten Jahrhunderts und heute: Der Graben bei der Einkommensverteilung ist heute ähnlich gross wie damals. Wie kann das sein?

Die Situation ist tatsächlich ähnlich, die Vorzeichen sind jedoch andere. Damals waren die Staaten zusammengebrochen und es herrschte eine enorm hohe Arbeitslosigkeit. Menschen haben gehungert. Heute leben wir in den reichsten Gesellschaften überhaupt, unsere Staaten sind intakt. Unseren Wirtschaften geht es hervorragend, es wird immer noch viel Profit erwirtschaftet – nur wird immer mehr davon durch Maschinen und Computer erwirtschaftet und immer weniger durch Menschen. Das ist ein Trend, der sich durchsetzen wird.

Mit welchen Folgen?

Es wird in unseren Gesellschaften künftig mehr Menschen geben, für die es keine Arbeit mehr gibt, die aber trotzdem Geld bekommen, im Sinne eines Almosens. Niemand braucht ihre Arbeitskraft, ihre Ideen, ihren Enthusiasmus. Die Wirtschaft braucht sie nur noch als Konsumenten. Das ist eine demütigende Situation, und Demütigung spielt in der Politik eine wesentliche Rolle.

Auch das weckt ungute Erinnerungen an die 1920er-Jahre. Werden die Menschen wieder empfänglicher für populistische Akteure?

Die Menschen der 1920er-Jahre, die hungerten, haben erlebt: Der Staat kann mir nicht helfen. Das hat viele, nicht nur in Deutschland, Österreich und Italien, sondern auch in England, Frankreich und Schweden dazu gebracht, ihr Heil bei den Faschisten oder bei anderen totalitären Ideologien zu suchen. Künftig werden mehr Menschen erleben, dass nicht mehr wahr ist, was unsere liberalen Demokratien ihnen versprochen haben: Wenn du dich bemühst, kannst du weiterkommen, deinen Kindern wird es einmal besser gehen. Da dürfen wir uns nicht wundern, wenn sich diese Menschen von der liberalen Demokratie abwenden und sich nach anderen Modellen umsehen. Dazu gehören Modelle, wie wir sie in einigen osteuropäischen Ländern sehen, die dem liberalen Gedanken Adieu gesagt haben. Dazu gehören aber auch Diktaturen wie in Russland oder in Weissrussland. Diese Modelle sind nicht so weit weg von uns, und alles, was uns davon trennt, ist Wohlstand.

Was braucht es, damit wir am Ende dieses Jahrzehnts, anders als die Menschen im Europa der 1920er-Jahre, in eine positive Zukunft blicken?

Zum einen bedarf es eines politischen, wirtschaftlichen und volkswirtschaftlichen Projekts, nämlich der Schaffung einer nach­haltigen Wirtschaft und der Erneuerung demokratischer Strukturen. Zum anderen geht es letztlich jedoch um ein viel grösseres philosophisches Projekt: Wir müssen endlich begreifen, dass wir nicht ausserhalb oder gar über der Natur stehen, sondern ein Teil von ihr sind. Damit würden wir 3’000 Jahre Mentalitäts­geschichte über den Haufen werfen, in der wir glaubten, wir müssten uns die Erde untertan machen, weil ein Gott uns hier eingesetzt hat, um nach Belieben zu schalten und zu walten. Auch wenn viele heute nicht mehr an jenen Gott glauben – das Menschenbild der Marktwirtschaft ist letztlich kein wirklich anderes. Deshalb brauchen wir eine neue Aufklärung. Es geht darum, ein global gesehen kooperativeres Leben zu finden. Auch deshalb, weil es keine lokalen Probleme mehr gibt.

Zur Person

Der promovierte Historiker Philipp Blom wuchs in Hamburg auf. Heute lebt Philipp Blom (51) in Wien – dort arbeitet er als Historiker, Philosoph, Autor und Journalist. Seine historischen und literarischen Werke wurden in 16 Sprachen übersetzt und mehrfach ausgezeichnet. Zuletzt erschien sein Roman «Diebe des Lichts» (Blessing-Verlag, 2021). philipp-blom.eu

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