Finanzwelt trifft auf Entwicklungshilfe

Von den Anfängen der Mikrofinanzierung bis heute: Silke Humbert, Nachhaltigkeitsspezialistin bei der Zürcher Kantonalbank, gibt einen Einblick in Funktionsweise, Kritikpunkte und Weiterentwicklungen des Anlagetrends.

Text: Silke Humbert

Zu über 80 Prozent werden die Kleinstkredite an Frauen vergeben, die sich risikobewusster im Umgang mit Geld zeigen und Überschüsse vermehrt im Sinne der Familie investieren. (Bild: Getty Images)

«Es sind nicht die Menschen, die kreditunwürdig sind. Es sind die Banken, die menschenunwürdig sind». Mit diesem Credo hat Muhamad Yunus in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ein Instrument entwickelt, das an der Schnittstelle zwischen Banking und Armutsbekämpfung liegt: die Mikrofinanzierung.

Die Armut, die der Professor für Volkswirtschaft in seinem Heimatland Bangladesch erlebte, führte er darauf zurück, dass die Armen weitestgehend vom Wirtschafts- und Finanzsystem ausgeschlossen waren. Um das zu ändern, schuf er die Grameen Bank: Eine auf Mikrokredite spezialisierte Bank, um der armen Bevölkerung zu helfen, sich selbst zu helfen.

Mittlerweile zählt die Mikrofinanzierung zu den etablierten Grössen in der Finanzwelt, und Muhammad Yunus und seine Grameen Bank wurden 2006 für ihre «Bemühungen, ökonomische und soziale Entwicklung von unten» zu fördern, mit dem Nobelpreis ausgezeichnet. Dabei ist das Konzept nicht neu: Schon im Mittelalter gab es in Europa mit den Sparkassen und Pfandleihhäusern Institutionen, mit denen arme Bevölkerungsschichten vor Wucherern und Überschuldung geschützt werden sollten.

Wie funktioniert Mikrofinanz?

Investitionen in die Mikrofinanz verlaufen mehrstufig über Fonds und Mikrofinanzinstitute. Öffentliche und private Investoren kaufen Anteile von Mikrofinanzfonds. Den Grossteil machen mit 85 Prozent institutionelle Investoren aus. Nur etwa 15 Prozent entfallen auf Privatpersonen. Über die Fonds haben westliche Investoren die Möglichkeit, sich diversifiziert über die verschiedenen Mikrofinanzinstitute hinweg entwicklungspolitisch zu engagieren.

Eine gute Diversifikation steht für die Fonds im Fokus, wenn sie die Mikrofinanzinstitute selektionieren. Die vor Ort ansässigen Mikrofinanzinstitute vergeben die Darlehen und betreuen die Kreditnehmenden. Sie sind es auch, die den Zinssatz und die für die jeweilige Zielgruppe geeignete Produktpalette festlegen. Zu über 80 Prozent werden die Kleinstkredite an Frauen vergeben, die sich risikobewusster im Umgang mit Geld zeigen und Überschüsse vermehrt im Sinne der Familie investieren. Es hat sich bewährt, Mikrokredite nicht an Einzelpersonen, sondern an solidarisch für die Rückzahlung haftende Gruppen zu vergeben.

Kritik an den hohen Zinsen

Mikrofinanz stand aus westlicher Sicht immer wieder wegen der hohen Zinsen in der Kritik. Der durchschnittlich angewandte Zinssatz von 60 Prozent für Mikrokredite in Entwicklungsländern relativiert sich jedoch schnell: Inoffizielle Geldgeber verlangen Zinsen, die deutlich über 100 Prozent liegen. Die kommerziellen Banken verlangen zwar im Schnitt nur einen Zinssatz von 30 Prozent, aber davon kann die arme Bevölkerung nicht profitieren: Für kommerzielle Banken sind sie keine attraktive Zielgruppe, da der Aufwand für Kleinstkredite zu gross ist und die arme Bevölkerung keine Sicherheiten bieten kann.

In die Berechnung der Zinssätze für die Mikrokredite fliessen Betriebsaufwendungen, Kapitalkosten, Steuern, Ausfälle von Kreditverbindlichkeiten sowie der angesteuerte Gewinn mit ein. Die Betriebskosten der Mikrofinanzgeber stellen den grössten Faktor dar, was sich durch die kleinen Kreditgrössen und die daraus folgenden hohen Personalkosten gut erklären lässt.

Warum die Wirkung von Mikrofinanz so schwer zu messen ist

Die Frage, welche Wirkung Mikrofinanz zu entfalten vermag, wurde in vielen Studien untersucht und führt trotzdem noch zu Diskussionen. In einzelnen Studien zeigten sich positive Effekte auf Lebensstandard, Einkommen sowie die Schulbildung der Kinder von Kreditnehmenden.

Eine abschliessende Analyse gibt es allerdings bis heute noch nicht. Der Grund liegt im komplizierten methodischen Studiendesign. Dieses ist nötig, um eine kausale Wirkung der Mikrofinanz nachzuweisen. Zwei Gruppen mit ähnlicher Zusammensetzung, aber zufällig selektierten Individuen müssten über eine längere Zeit untersucht werden. Dabei erhält eine Gruppe einen Mikrokredit, die Kontrollgruppe dagegen nicht. Dieses Studiendesign ist insofern ethisch fragwürdig, weil für valide wissenschaftliche Ergebnisse der Kontrollgruppe kein Zugang zu Mikrofinanz gewährt werden darf.

Wie sieht es heute aus?

Die Euphorie aus der Anfangszeit, Mikrofinanzierungen allein würden die Armut in der Welt besiegen, ist vergangen. Dafür sind die Ursachen der Armut zu komplex, und nicht zuletzt spielen stabile politische Verhältnisse eine grosse Rolle. Zudem stösst ein rein marktbasiertes System bei Menschen in extremer Armut an Grenzen. Diese befinden sich oft in schlechter gesundheitlicher Verfassung oder haben keinen festen Wohnsitz und müssen zuerst einmal ihre Grundbedürfnisse decken, bevor sie einen Nutzen aus einem Kredit zur Aufnahme einer wirtschaftlichen Tätigkeit ziehen können.

Gleichwohl haben sich die Mikrofinanzinstitute beständig weiterentwickelt und neue, an die Bedürfnisse der Kreditnehmenden angepasste Produkte geschaffen. Längst beinhaltet das Spektrum der Mikrofinanzinstitute nicht mehr nur die Vergabe von Mikrokrediten, sondern auch Versicherungs- und Zahlungsdienstleistungen sowie umfassende Bildungsprogramme und Gesundheitsdienstleistungen. Durch die Verankerung in den lokalen Gemeinden konnten die Mikrofinanzinstitute auch während der Covid-Pandemie einen wichtigen Beitrag leisten, indem sie Unterstützungsprogramme der Regierung bereitstellten.

Der indische Wirtschaftswissenschaftler und Nobelpreisträger Amartya Sen hat Armut als Mangel an Verwirklichungschancen definiert. Für über 200 Millionen Kreditnehmenden aus armen Bevölkerungsschichten stellt die Mikrofinanz genau so eine Verwirklichungschance dar.

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