Schweiz wächst atypisch

Bei genauerer Betrachtung des prognostizierten Bevölkerungswachstums gehört die Schweiz in den kommenden Jahren zu den Exoten in Europa. Was sind die Gründe? Und gilt das auch im globalen Vergleich? Mehr dazu im Beitrag von Chefökonom Schweiz, David Marmet.

Text: David Marmet

«Während die Bevölkerung unserer Nachbarländer in den nächsten Jahrzehnten kaum mehr wächst, wird die Schweiz aufgrund der Zuwanderung nochmals deutlich zulegen», sagt David Marmet. (Bild: Getty Images)

«Indien löst China als bevölkerungsreichstes Land ab» - diese Schlagzeile machte jüngst die Runde in den Medien. Laut den Vereinten Nationen (UNO) ist Indien seit dem 14. April 2023 mit 1'425 Millionen Einwohnern die Nummer eins. Die indische Bevölkerung hat sich innerhalb von 40 Jahren verdoppelt, in China hingegen dauerte dies knapp 60 Jahre.

Wie präsentiert sich das Bevölkerungswachstum in der hochentwickelten Schweiz? Dazu lässt sich Erstaunliches festhalten. 1860 lebten in unserem Land 2,5 Millionen Menschen. Knapp hundert Jahre später, 1955, hatte sich die Zahl verdoppelt.

Ziehen wir das Referenzszenario vom Bundesamt für Statistik (BfS) zur Bevölkerungsentwicklung heran, so wird die Schweiz zur Mitte dieses Jahrhunderts 10,44 Millionen Einwohner haben. Also wird sich bis dahin die Schweizer Bevölkerung wieder innerhalb von knapp hundert Jahren verdoppelt haben.

Nettozuwanderung macht die Differenz

In diesem Referenzszenario des BfS wird angenommen, dass das Bevölkerungswachstum in der Schweiz in der nächsten Zeit jährlich rund 0,8 Prozent betragen wird und sich dann bis 2050 auf 0,4 Prozent abschwächt. Natürlich nehmen die Geburten und Todesfälle mit steigender Bevölkerung zu. Der Geburtenüberschuss (Geburten minus Todesfälle) von aktuell rund 20'000 Personen wird sich 2050 gemäss der BfS-Projektion aber gerade noch auf 5'000 Personen belaufen. Wie schon in den letzten Jahrzehnten wird das Bevölkerungswachstum also vor allem auf die Nettozuwanderung zurückzuführen sein. Bis 2030 wird der Wanderungssaldo, sprich die Differenz zwischen Zu- und Abwanderungen, jährlich bei über 50'000 zu liegen kommen. Bis Ende des Prognosehorizonts sinkt er dann auf 35'000.

Exotin innerhalb Europa

Gehört die Schweiz mit einem prognostizierten Wachstum von 20 Prozent in den nächsten drei Dekaden zu den Exoten? Wenn wir die angrenzenden Länder als Vergleich heranziehen, ist diese Frage klar mit Ja zu beantworten. Gemäss den Referenzprognosen von Eurostat verringert sich die Bevölkerung der EU-27 (Mitgliedstaaten der Europäischen Union) zwischen 2020 und 2050 sogar. In Deutschland wird mit einem Rückgang von 1 Prozent gerechnet, in Italien mit einem Bevölkerungsschwund von 4 Prozent. Für Frankreich resultiert immerhin ein Wachstum von 4 Prozent und für Österreich eines von 5 Prozent.

Im globalen Gleichschritt

Wenn wir hingegen das prognostizierte demografische Wachstum der Welt betrachten, befindet sich die Schweiz in guter Gesellschaft. Gemäss den UNO-Prognosen wird die Weltbevölkerung bis 2050 mit gut 20 Prozent wachsen – also ähnlich stark wie die Schweiz. Indien wird gar ein leicht schwächeres prozentuales Wachstum an den Tag legen als die Schweiz. Natürlich gibt es innerhalb der Länder und Kontinente riesige Unterschiede. Bekanntlich wird die afrikanische Bevölkerung in den nächsten Jahrzehnten mit Abstand am schnellsten wachsen.

Fachkräftemangel als Herkulesaufgabe

Das prognostizierte Schweizer Bevölkerungswachstum kann durchaus als atypisch bezeichnet werden. Während die an die Schweiz angrenzenden Länder in den nächsten Jahrzehnten kaum mehr wachsen oder gar schrumpfen werden, wird die Schweiz aufgrund der Zuwanderung nochmals deutlich zulegen. Wegen des vorherrschenden Fachkräftemangels stellt sich die Frage, ob es der Schweiz gelingen wird, den Bedarf an qualifizierten Arbeitskräften zu decken. Ein Blick in die Vergangenheit stimmt insofern auch für die Zukunft zuversichtlich, als es den wirtschaftspolitischen Akteuren in der Schweiz stets gelungen ist, sich neuen Rahmenbedingungen pragmatisch anzupassen.

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