Der Wachstumsmythos und die Folgen

Unternehmen mit hohen Wachstumsraten sind beliebt. Doch wird deren Wachstumspotenzial richtig eingeschätzt? Und wie nachhaltig sind hohe Wachstumsraten tatsächlich? Eine empirische Betrachtung soll Licht ins Dunkel bringen.

Stefan Fröhlich, Senior Portfolio Manager, Systematic Equities

Wachstumsunternehmen zeichnen sich durch hohe Umsatz- und Gewinnwachstums­raten, Wettbewerbsvorteile und eine hohe Innovationskraft aus. In den vergangenen Jahrzehnten fanden sich Growth-Aktien typischerweise in den Sektoren Informations­technologie, Gesundheitswesen und bei zyklischen Konsumgütern. Diese Aktien sind in der Regel volatiler als Unternehmen mit unspektakulärem Gewinnverlauf, da die zukünftige Entwicklung mit einer grossen Unsicherheit behaftet ist. Investorinnen und Investoren sind aufgrund der Erwartung hoher zukünftiger Wachstumsraten und dem Potential höherer Renditen oft bereit, einen Aufpreis für solche Wachstumsunternehmen zu zahlen.

Wachstumsraten von Unternehmen überschätzt

Das durchschnittliche realisierte 1-Jahres-Gewinnwachstum der Unternehmen im MSCI Welt Index seit 1997 beträgt 15,8%. Die durchschnittliche Gewinnschätzung der Analystinnen und Analysten ist 7% höher und beläuft sich auf 23%. Aktuell ist die Differenz zwischen realisiertem und geschätztem Gewinnwachstum besonders gross: Während die Analystinnen und Analysten ihre Schätzungen nur geringfügig nach unten korrigiert haben, ist das realisierte Gewinnwachstum im vergangenen Jahr stark gesunken und liegt aktuell nahe bei 0% (vgl. Grafik).

Geschätztes und realisiertes Gewinnwachstum der Unternehmen des MSCI Welt Index

Quelle: FactSet, Swisscanto Equity Analytics

Hohe Wachstumsraten sinken schneller als erwartet

Die nachfolgende Grafik zeigt die Anzahl der Unternehmen, die über eine bestimmte Zeitperiode ein kontinuierlich realisiertes Gewinnwachstum von mehr als 20% erzielt haben. Seit 1997 gab es nur 28 Unternehmen, die über einen Zeitraum von mindestens vier Jahren ununterbrochen ein Gewinnwachstum von mehr als 20% realisiert haben. So hat etwa Apple in den Jahren 2004 bis 2008 hohe Wachstums­raten erzielt. Bei Adobe war dies in den Jahren 2015 bis 2019 der Fall. Seit 1997 findet man kein Unternehmen im MSCI Welt Index, das sein hohes Wachstum über mehr als sechs Jahre halten konnte. Analystinnen und Analysten hingegen schätzen das Wachstumspotential optimistischer ein: In den vergangenen 25 Jahren erwarteten sie, dass 398 Firmen über einen Zeitraum von mehr als vier Jahren ein Gewinnwachstum von über 20% erreichen würden, bei 147 Unternehmen hielten sie es für einen Zeitraum von mehr als sechs Jahren für möglich.

Anzahl Unternehmen im MSCI World Index mit einem anhaltenden Gewinnwachstum >20% über verschiedene Zeiträume (seit 1997)

Quelle: FactSet, Swisscanto Equity Analytics

Weshalb wird das Wachstumspotential überschätzt?

  1. Der Anker-Effekt: Menschen greifen bei der Schätzung eines Wertes auf eine bereits vorhandene Referenz zurück. In der Psychologie ist diese Denkweise als Ankereffekt bekannt. Bei Wachstumsschätzungen stützen sich Analystinnen und Analysten neben der Einschätzung der zukünftigen Unternehmensentwicklung auf das in der Vergangenheit erzielte Gewinnwachstum. Ist dieses hoch, wird in der Regel davon ausgegangen, dass die Wachstumsraten auch in künftigen Jahren Bestand haben werden. In der Realität sinken hohe Wachstumsraten aber deutlich schneller als erwartet.
  2. Der Momentum-Effekt: Das Herdenverhalten führt dazu, dass bei hohen Gewinnen und steigenden Aktienkursen das Vertrauen in das Unternehmen gestärkt wird und andere Anlegerinnen und Anleger ebenfalls investieren wollen. Hinzu kommt die Angst, eine einmalige Chance zu verpassen.
  3. Anhaltende Wachstumsillusion: Anlegerinnen und Anleger neigen dazu, ihre eigenen Fähigkeiten und ihr Urteilsvermögen zu überschätzen. Diese Selbstüberschätzung in Verbindung mit dem Herdentrieb führt dazu, dass man sich von den Erfolgen der Unternehmen in der Vergangenheit blenden lässt und die positive Unternehmensentwicklung zu weit in die Zukunft projiziert.


Lohnt sich die Investition in Wachstumsaktien?

Die empirische Evidenz seit den 1930er Jahren zeigt, dass Wachstumsaktien tiefere Renditen als der Gesamtmarkt erwirtschaften. Günstig bewertete Value-Aktien mit niedrigeren Wachstumsraten haben Growth-Aktien auf Dauer übertroffen. Es ist daher nicht ratsam, eine Aktie nur aufgrund hoher Wachstumsraten in der Vergangenheit zu kaufen, da hohe Wachstumsraten in der Regel nur von kurzer Dauer sind und oft schneller als erwartet sinken. Eine Investition in Growth-Aktien erfordert eine fundierte Unternehmensanalyse, bei welcher Firmenstrategie, Entwicklungspotential, Bewertung und Branche sorgfältig beurteilt werden. 

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