Kaum Raum für den Wohntraum

Viele sehen im Einfamilienhaus die ideale Wohnform. Angesichts des zunehmend knappen Bodens stellt sich jedoch die Frage, wie zeitgemäss das Einfamilienhaus noch ist.

Text: Jörn Schellenberg, Analytics Immobilien

Baulandmangel und bauliche Verdichtung machen Einfamilienhäuser zum Auslaufmodell
Baulandmangel und bauliche Verdichtung machen Einfamilienhäuser zum Auslaufmodell (Illustration: JoosWolfangel)

Welche Familie träumt nicht vom eigenen Haus, am besten mit grosszügigem Umschwung? Dem Nachwuchs einfach die Terrassentür öffnen und ihn ums Haus tollen lassen. Den Sommerabend gemütlich im Garten verbringen, mehr Gestaltungsfreiheit geniessen und weitgehend vor lästigem Lärm von den Nachbarn geschützt sein. Die zunehmenden jährlichen Preissteigerungen – aktuell schon fast im zweistelligen Prozentbereich – unterstreichen die eindrückliche Attraktivität von Eigenheimen. Gerade bei den Einfamilienhäusern (EFH) dürfte sich der Nachfrageüberhang sogar noch verschärfen: Angesichts des fortschreitenden Baulandmangels und der raumplanerisch angestrebten Verdichtung in den bestehenden Siedlungsbereichen wird das EFH im Kanton Zürich langsam zum Auslaufmodell. So nehmen die Neubauten von Jahr zu Jahr ab. Gleichzeitig werden immer mehr EFH abgerissen (s. Grafik unten). Seit 2016 werden jährlich 300–400 EFH dem Erdboden gleichgemacht. Bis anhin vermochten die Neubauten die Abrisse noch zu kompensieren. Das Wachstum des EFH-Bestandes von durchschnittlich lediglich 0,14 Prozent in den letzten Jahren hielt jedoch mit dem jährlichen Bevölkerungswachstum von gut 1 Prozent bei Weitem nicht mit. Diese Situation dürfte sich weiter akzentuieren. Ausgerechnet in einer Zeit, in der die Nachfrage nach EFH pandemiebedingt besonders gross ist, droht der EFH-Bestand erstmals zu sinken. Bereits im vergangenen Jahr erreichte die Zahl der Abbrüche etwa die der Neubauten. Setzt sich der Trend fort, werden schon in diesem Jahr mehr EFH von der Bildfläche verschwinden als neu gebaut.

Einfamilienhaus-Bestand im Kanton Zürich könnte 2022 erstmals abnehmen

Einfamilienhaus-Bestand im Kanton Zürich könnte 2022 erstmals abnehmen
* zu erwartende Nachlieferungen von Abbrüchen und Neubauten im Jahr 2022 für 2021 auf Basis der Vorjahre geschätzt. Als Einfamilienhaus gelten in unseren Analysen reine Wohngebäude mit einer Wohnung sowie Wohngebäude mit Nebennutzung und genau einer Wohnung (z.B. Wohngebäude mit Arztpraxis oder Anwaltsbüro). Quellen: Gebäude- und Wohnungsregister (BFS), Zürcher Kantonalbank

 

Angesichts dieser Zahlen stellt sich die Frage, welche Zukunft EFH heute noch haben. Und wie steht es um die besonders begehrten freistehenden EFH? Mangels offizieller Statistik haben wir auf Basis der Gebäudegrundrisse aus der amtlichen Vermessung die Nachbarschaftsbeziehungen der in den letzten Jahren abgerissenen und der noch bestehenden EFH ermittelt. Um die Gründe für die Abrisse zu eruieren, haben wir ferner einen Blick auf das Alter der betroffenen Gebäude geworfen und geschaut, was anschliessend auf den betroffenen Parzellen entsteht.
 

Immobilien aktuell 1-22

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Abrisstätigkeit vor allem in den Städten und Seegemeinden


Besonders markant sind die Abbrüche von EFH in der Stadt Zürich und in den Seegemeinden (s. Karte unten), wobei die Abbruchtätigkeit an der Goldküste noch etwas höher ist als am linken Seeufer. Auch in den angrenzenden Agglomerationsgemeinden wird rege abgerissen, relativ wenig hingegen auf dem Land. Die Nachbarschaftsanalysen haben gezeigt, dass gerade die besonders gefragten freistehenden EFH in hohem Masse Neubauten weichen. Obwohl nur knapp 46 Prozent des aktuellen Bestandes frei steht, machen sie fast drei Viertel der seit 2016 erfolgten EFH-Abbrüche aus. In der Stadt Zürich verschwand seit 2016 mehr als 5 Prozent des ursprünglichen Bestandes freistehender Einfamilienhäuser. In Herrliberg, Meilen und Thalwil waren es mehr als 6 Prozent.

EFH-Abbrüche 2016 bis 2021

EFH-Abbrüche
Quellen: Gebäude- und Wohnungsregister (BFS), Zürcher Kantonalbank

 

Freiheit beim Abbruch

Eigentümer freistehender Häuser geniessen die grösste Flexibilität bezüglich Abriss und anschliessendem Neubau. Diese Häuser werden daher zum Teil schon relativ schnell wieder ersetzt. Jedes zweite freistehende EFH ist bei Abbruch noch keine 70 Jahre alt. Im Falle von Doppeleinfamilienhäusern liegt es je nach Besitzstruktur (zwei Eigentümer) und Bauart (grosse gemeinsame Wand) nahe, sich für eine optimale Lösung mit dem Nachbarn hinsichtlich der Immobilienstrategie zu einigen. Dies kann sehr anspruchsvoll sein, insbesondere wenn verschiedene Lebenssituationen aufeinandertreffen oder unterschiedliche Anforderungen an einen Neubau bestehen. Vielfach ist es aber auch möglich – mit entsprechendem Zusatzaufwand – lediglich eine Gebäudehälfte abzureissen. Dies war in der Tat sogar bei der Mehrzahl der von einem Abbruch bzw. Teilabbruch betroffenen Doppeleinfamilienhäuser in den letzten Jahren der Fall. Wer eine ältere Doppeleinfamilienhaushälfte kauft, sollte sich bewusst sein, dass der Nachbar schon bald seine eigenen Vorstellungen umsetzen könnte.
 

Nachbarschaftsbeziehungen
Teilt ein Gebäude keine Wand mit einem anderen Gebäude, gilt es als freistehend. Grenzt ein EFH an genau ein weiteres EFH, gelten beide als Doppelhaushälften. Schliesst sich ein weiteres EFH an, handelt es sich um drei Reiheneinfamilienhäuser. Jedes weitere unmittelbar angrenzende EFH gilt ebenfalls als Reiheneinfamilienhaus.

Noch anspruchsvoller dürfte der Abbruch von Reiheneinfamilienhäusern sein. Es ist daher auf den ersten Blick überraschend, dass Reiheneinfamilienhäuser in einem ähnlichen Masse verschwinden wie Doppelhaushälften. Wenn es aber zu einem Abbruch kommt, beschränkt sich dies – anders als bei Doppeleinfamilienhäusern – praktisch nie auf einzelne Einheiten, sondern es wird in der Regel der gesamte zusammenhängende Gebäudekomplex abgebrochen. Drei Viertel der Abbrüche von Reiheneinfamilienhäusern im gesamten Kanton fanden in der Stadt Zürich statt, wo Investitionen in die Verdichtung auf der eigenen Parzelle besonders lukrativ sind. Die Abbrüche erfolgten jedoch keineswegs durch Investoren mit Renditeerwartungen, sondern durch Genossenschaften. Diese haben mit der Schaffung von zusätzlichem Wohnraum mehr Haushalten das günstige Wohnen zur sogenannten Kostenmiete ermöglicht. Mit dem Ersatz der überwiegend 70–80 Jahre alten Bauten konnten sie ferner die Grundrisse an heutige Bedürfnisse anpassen. Reiheneinfamilienhäuser sind erst mit der Industrialisierung aufgekommen. Sie wurden einst aus finanziellen Gründen zur bevorzugten Bauform, insbesondere in den Städten, denn sie beanspruchen deutlich weniger Grundstückfläche und lassen sich aufgrund der kompakten Bauweise effizienter heizen. So konnte man die wachsende Bevölkerung bei zunehmend knappem Boden relativ kostengünstig unterbringen. Sie waren folglich schon immer eng verflochten mit dem Aspekt des erschwinglichen Wohnens und werden nun in den Städten allmählich durch noch günstigere Wohnformen ersetzt, sofern sie nicht als Zeitzeugen der Industrialisierung geschützt sind.

Die grössten Abbruchprojekte bei Reiheneinfamilienhäusern
Quellen: Gebäude- und Wohnungsregister (BFS), Zürcher Kantonalbank

Ausgeträumt? EFH weichen MFH

Die sich zuspitzende Knappheit von Bauland führt nicht nur bei den Genossenschaften, sondern auch auf dem wesentlich grösseren freien Markt zunehmend zur Substitution von Einfamilienhäusern durch Mehrfamilienhäuser (MFH). Angesichts der stark gestiegenen Immobilienpreise wird es attraktiver, in die Jahre gekommene EFH zu ersetzen. Dies bietet sich insbesondere dann an, wenn sich vorhandene Ausnützungsreserven in reale Immobilienwerte ummünzen lassen und ohnehin eine umfassende Sanierung anstünde. Eigenheimbesitzer, die weiterhin am vertrauten Ort wohnen möchten, lassen sich auf ihrer Parzelle eine Wohnung in einem altersgerechten MFH-Neubau errichten und verschaffen sich gleichzeitig Einkünfte, indem sie die übrigen Wohnungen verkaufen oder vermieten. Für Käufer und Mieter ist eine Wohnung eher erschwinglich als ein ganzes Haus, was die Rendite für den Grundbesitzer erhöht.
 

EFH werden überwiegend durch MFH ersetzt

EFH werden überwiegend durch MFH ersetzt
Quelle: Zürcher Kantonalbank

So verwundert es nicht, dass Einfamilienhäuser überwiegend Mehrfamilienhäusern weichen und somit die Verdichtung massiv voranschreitet. Dies zeigen unsere umfangreichen GIS-Analysen, bei denen wir für einen Grossteil der in den letzten sechs Jahren abgerissenen EFH bereits einen fertiggestellten Neubau ermitteln konnten: 70 Prozent der EFH-Abbrüche resultieren in einem MFH. Selbst von den ursprünglich freistehenden EFH wird lediglich etwas mehr als ein Viertel eins zu eins durch ein neues EFH ersetzt (s. Grafik oben), und die immerhin spärliche Verdichtung durch das Realisieren mehrerer EFH anstelle eines einzelnen ist noch seltener.

Mehr als 60 Prozent der freistehenden EFH weichen bei Abbruch einem oder mehreren Mehrfamilienhäusern. Bei den Doppelhaushälften sind es drei Viertel und bei den Reihenhäusern stattliche 98 Prozent. Letzteres ist darauf zurückzuführen, dass mit dem Abbruch des gesamten Gebäudekomplexes ideal für MFH geeignete Flächen entstehen, wie das Beispiel der Ersatzneubauten der ASIG Wohnbaugesellschaft in Zürich zeigt (s. Grafik unten).
 

Beispiel: Siedlung «Am Glattboden»

Entwicklung «Am Glattbogen»
Quelle: Zürcher Kantonalbank

Die zunehmende Substitution von Einfamilienhäusern wird nicht nur wegen des regen Neubaubedarfes der Genossenschaften, sondern vor allem angesichts der vorwiegend bereits über 60-jährigen Einfamilienhauseigentümer weitergehen. Bei den sogenannten Babyboomern steht der Generationenwechsel unmittelbar bevor. Dies forciert die Abbrüche weiter, denn selbst wenn die Erben das Haus gern in der Familie halten würden, fällt das Auszahlen der übrigen Nachkommen oft schwer. Andere haben keinen Bedarf, da sie sich bereits ihren Wohntraum erfüllt haben. Gemäss einer früheren Analyse unserer Finanzierungen kommen etwas mehr als die Hälfte der Einfamilienhäuser mit dem Generationenwechsel auf den Markt, da die Besitzer oder deren Erben im Verkauf die beste Lösung sehen. Beim Kauf stehen private Eigenheiminteressenten in Konkurrenz zu finanzkräftigen professionellen Investoren, die das Grundstück renditeträchtig verdichten. Auch die Neubautätigkeit bei Einfamilienhäusern kann die Nachfrage längst nicht mehr decken. Im Gegenteil, sie droht gar schon bald von der Zahl der Abbrüche übertroffen zu werden. Wer nicht durch Erbschaft oder Schenkung ein Einfamilienhaus erhalten kann, wird es künftig umso schwerer haben, sich den Traum vom eigenen Haus zu verwirklichen. Insbesondere freistehende Häuser mit Umschwung werden seltener. Das EFH wird zunehmend zum Auslaufmodell, denn es ist in Hinblick auf die Flächen- und Ressourcenbeanspruchung je länger, je weniger zeitgemäss.

 

Wo gibt es noch freistehende EFH?

Einfamilienhäuser sind die typische Wohnform in ländlichen Regionen. Im Weinland und im Knonauer Amt liegt der EFH-Anteil an allen Wohngebäuden bei weit über 70 Prozent. Die grösste Anzahl Einfamilienhäuser findet sich aber in den Städten. Die Stadt Zürich hat mit 9'600 EFH deutlich mehr EFH als das gesamte Knonauer Amt (8'700) und das Weinland (7'000). Winterthur kommt auf 8'600 EFH. Die dritthöchste Anzahl hat Uster mit 3'000. Auch die exklusiven Wohnlagen an den Seeufern verzeichnen zahlreiche EFH. Mit ihren rund 11'100 EFH übertrifft die Goldküste (Bezirk Meilen) das linke Zürichseeufer (Bezirk Horgen) um 1'000 EFH.
 

Wo gibt es noch freistehende EFH?
Quellen: Gebäude- und Wohnungsregister (BFS), Zürcher Kantonalbank

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