Mieter im goldenen Käfig

Im Kanton Zürich befinden sich Mieter im Schnitt bereits knapp zehn Jahre in der gleichen Wohnung. Dadurch sparen sie aktuell über 3'000 Franken an Miete pro Jahr gegenüber Neumietern. Dieser Vorteil hält viele von einem Umzug ab. Sie leben stattdessen in zu grossen oder zu kleinen Wohnungen.

Text: Julia Lareida und Benedikt Lennartz, Analytics Immobilien

Goldener Käfig
Umziehen nach langer Mietdauer lohnt sich kaum noch. Mieter bleiben im goldenen Käfig. (Illustration: Maria Salvatore)

Wohnungsknappheit ist im Wahljahr eines der meistdiskutierten Themen der politischen Landschaft in der Schweiz. Der Fokus liegt dabei auf dem schleppenden Wohnbau, der Zuwanderung und den hohen Angebotsmieten. Den grossen Teil des Marktes machen jedoch bestehende Mietverhältnisse aus, denn pro Jahr ziehen schätzungsweise nur 10 Prozent aller Haushalte um. Im Bestand sind die Mieten durch Regulierungen geschützt und dürfen nur in seltenen Fällen angepasst werden. Damit wird es bei steigenden Angebotsmieten für Langzeitmieter finanziell zunehmend attraktiv, in ihrer Mietwohnung zu bleiben. Wie sich zeigt, treffen die hervorgerufenen Ineffizienzen und Fehlanreize sowohl Mieter im Bestand als auch Neumieter.

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Eine Dekade in der städtischen Mietwohnung

In einer Grossstadt wie Zürich gestaltet sich die Wohnungssuche mühsam. Typischerweise übersteigt die Nachfrage das Angebot um ein Vielfaches. Meist fühlt es sich an, als müsste man mit 20 weiteren Mitbewerbern um jede bezahlbare Mietwohnung kämpfen. Hat man erst einmal den begehrten Zuschlag bekommen, den Briefkasten angeschrieben und es sich in den vier Wänden gemütlich gemacht, wird der Gedanke an ein erneutes Ringen um die nächste Mietwohnung zum Graus. Daher überrascht es nicht, dass in urbanen Räumen trotz junger und agiler Bevölkerung Mietwohnungen länger belegt sind als auf dem Land. Denn dies hat auch finanzielle Gründe.

Unsere Auswertung der Mietpreisindex-Daten des Bundesamtes für Statistik (BFS) von 2008 bis 2023 zeigt, dass Mieter im Kanton Zürich durchschnittlich bereits beachtliche 9,8 Jahre in ihrer Mietwohnung verweilen. In der Stadt Zürich sind es 10,3 Jahre, obwohl in der Stadt bekanntermassen viele Studenten wohnen, die häufiger umziehen. Rund 15 Prozent aller Mieter in der Limmatstadt wohnen sogar bereits über 20 Jahre in den altbekannten vier Wänden.

In der Stadt zieht man seltener um

Durchschnittliche Dauer bestehender Mietverhältnisse nach Region im Kanton Zürich, Anzahl Jahre

Länger Wohnen
Quellen: BFS, Zürcher Kantonalbank

Die Langzeitmiete in derselben Wohnung hat nicht nur den Vorteil, keine Kisten packen oder die Post nicht ummelden zu müssen. Vielmehr profitiert man im Laufe der Zeit von einem umso attraktiveren Mietzins im Vergleich zu den steigenden Angebotsmieten. Grund dafür ist die Regulierung des Mietmarktes in der Schweiz. So schreibt das Mietrecht vor, dass der Mietzins in einem bestehenden Mietverhältnis nur in seltenen, gut begründeten Fällen angepasst werden darf. Zusätzliche lokale Regulierung, wie beispielsweise auf dem Genfer Wohnungsmarkt, schränkt die Möglichkeiten zu Mieterhöhungen weiter ein, was die Vorteile der Langzeitmiete erhöht.

Unsere Analyse der Mietpreisindex-Daten des BFS zeigt, dass die Mieten in bestehenden Mietverhältnissen ohne Mieterwechsel im Kanton Zürich seit 2008 relativ stabil geblieben sind. In der Vergangenheit waren pro Quartal lediglich rund 1 Prozent der Haushalte ohne Umzug von Mietzinssteigerungen betroffen. Diejenigen, die einen unliebsamen Brief vom Vermieter erhalten haben, mussten im Durchschnitt eine Mietzinserhöhung von 8,0 Prozent, zum Beispiel bei Anpassung an die aufgelaufene Teuerung, stemmen. Gleichzeitig haben im gleichen Zeitraum viermal so viele Haushalte eine Senkung des Nettomietzinses erfahren, um durchschnittlich 3,6 Prozent. Dies ist auf den seit 2008 stetig sinkenden Referenzzinssatz zurückzuführen. Besonders im Kanton Zürich haben Mieter die damit verbundene Mietzinssenkung bei ihrem Vermieter erfolgreich eingefordert. In der Summe zeigt sich: Ist ein Mieter im Kanton Zürich 2008 in seine Mietwohnung eingezogen und wohnt noch immer darin, so hat sich sein Mietzins im Schnitt bis heute um 3,3 Prozent reduziert. Die Angebotsmieten haben hingegen im gleichen Zeitraum um über 33 Prozent zugenommen.

1,1 Milliarden Mietersparnis in der Stadt Zürich

Die gleichbleibenden Mietzinsen in einem bestehenden Mietverhältnis stehen in starkem Kontrast zu den stetig steigenden Angebotsmieten der ausgeschriebenen Wohnungen. So ist die durchschnittliche Nettomiete in der Stadt Zürich in bestehenden Mietverhältnissen lediglich 1’672 Franken. Bei einer durchschnittlichen Wohnungsgrösse von 3–4 Zimmern erscheint diese Miete sehr günstig.

Je regulierter der Mietwohnungsmarkt, desto grösser der Verweilbonus

Unterschied zwischen Angebots- und Bestandesmiete für ausgewählte Regionen pro Jahr

Verweilbonus im Durchschnitt
Quellen: BFS, Zürcher Kantonalbank

Unsere Analyse bestätigt diesen Eindruck. Wir haben für Wohnungen in den Mietpreisindex-Daten des BFS die individuelle Marktmiete berechnet. Unser Vergleich dieser Angebotsmieten mit den Bestandesmieten zeigt: Der Nettomietzins einer neu ausgeschriebenen Wohnung liegt im Schnitt höher als die Miete im Bestand. In der Stadt Zürich beträgt dieser Aufschlag beispielsweise 26 Prozent. Ein langjähriger Mieter geniesst folglich einen Verweilbonus. Der durchschnittliche Miethaushalt in der Limmatstadt spart jährlich über 5’200 Franken an Miete ein. Summiert man diesen Verweilbonus über alle Miethaushalte, ergibt das eine jährliche Ersparnis von rund 1,1 Milliarden Franken – allein in der Stadt Zürich. In der Stadt Genf ist der Verweilbonus aufgrund der hohen Regulierungsdichte des lokalen Mietwohnungsmarktes besonders hoch. Ein durchschnittlicher Mieter geniesst einen Kostenvorteil von über 10’000 Franken jährlich relativ zu einem Umzug in eine vergleichbare Wohnung.

Hoher Verweilbonus, weniger Umzüge

Wer ohnehin nicht plant, sein Mietverhältnis zu ändern, dem wird die errechnete Ersparnis spätestens dann vor Augen geführt, wenn neue Nachbarn von ihren hohen Mieten berichten. Für diejenigen, die darüber nachdenken umzuziehen, zum Beispiel aufgrund einer geänderten Familienkonstellation oder einer neuen Arbeitsstelle, wird sie zu einer realen Entscheidungsgrundlage. Denn Mieter sehen sich im Falle eines Umzuges mit hohen Mehrkosten konfrontiert. Über eine allzu kleine Küche, den ungeliebten Laminatboden oder den Strassenlärm sieht man hinweg.

Je grösser der Verweilbonus, desto ­seltener wird umgezogen

Jährliche Umzugsrate in Abhängigkeit vom Verweilbonus im Kanton Zürich (in %)

Verweilbonus oder Umzug
Quellen: BFS, Zürcher Kantonalbank

Unser Vergleich von Verweilbonus und Umzugsrate zeigt: Dort, wo die aktuelle Ersparnis gross ist, ist ein Umzug seltener. Die Wahrscheinlichkeit umzuziehen, sinkt im Laufe des Mietverhältnisses. Diejenigen, die erst kürzlich, also vor ein paar Jahren, eingezogen sind, ziehen am häufigsten um, da unter ihnen viele junge, mobile Personen sind. Wenn ihre Mietersparnis jedoch hoch ist, sei es, weil sie einen günstigen Anfangsmietzins erhalten haben oder die Angebotsmieten für vergleichbare Wohnungen in kurzer Zeit stark angezogen haben, ziehen auch sie seltener um. Insbesondere Langzeitmieter, also Familien und ältere Haushalte, haben sich häufig in ihren Wohnungen eingerichtet und sind wenig mobil. Wer sich eingelebt hat, sieht erst recht keinen Grund, für einen Wohnungswechsel auch noch draufzuzahlen. Wenn der Unterschied zwischen Bestandes- und Angebotsmiete mehr als 20 Prozent beträgt, entscheiden sich nur noch knapp 4 Prozent pro Jahr für einen Umzug im Vergleich zu rund 10 Prozent ohne Verweilbonus. Die Umzugswahrscheinlichkeit wird also mehr als halbiert.

Gleiche Miete, weniger Zimmer

Dass Umzüge bei hohem Verweilbonus seltener stattfinden, überrascht nicht. Viele können sich die finanzielle Mehrbelastung nicht erlauben. Erscheint ein Umzug dennoch nötig, stellt sich für diese Haushalte eher die Frage: Was müssten wir bei einem Umzug an Wohnkomfort aufgeben, um nicht mehr zahlen zu müssen? Unsere Analyse zeigt: Um bei einem Wohnungswechsel nicht draufzulegen, müsste man teilweise auf mehrere Zimmer verzichten.

Wer als junges Paar vor fünf Jahren eine 3-Zimmer-Wohnung im Kanton Zürich bezogen hat, findet nun zum gleichen Preis maximal noch eine 2-Zimmer-Wohnung. Hier verläuft die Entwicklung konträr zur Lebenswirklichkeit. Denn der zwischenzeitlich geborene Nachwuchs erfordert eigentlich eine räumliche Vergrösserung. Wer schon über 20 Jahre in einer 3-Zimmer-Wohnung lebt, müsste sogar gleich zwei Zimmer aufgeben, um das Wohnkostenbudget nicht stärker zu belasten.

Ähnlich sieht es für Mieter grösserer Wohnungen aus. Allerdings haben Bewohner einer 4-Zimmer-Wohnung zumindest einige Zeit, sich einen Umzug gut zu überlegen. Denn bis der Wohnungswechsel schmerzhaft wird, dauert es 10 Jahre. Innerhalb dieses Zeitraums bieten sich noch Möglichkeiten, in eine schlechter gelegene oder qualitativ einfachere Wohnung zu ziehen, ohne auf ein Zimmer zu verzichten. So kann die Miete gleich bleiben. Dafür muss man an anderer Stelle Abstriche machen.

Weniger Bedenkzeit bleibt den Mietern einer 5-Zimmer-Wohnung. Bereits nach 3 Jahren ist ein Umzug bei gleicher Miete nur noch in eine 4-Zimmer-Wohnung möglich. Viele dürften sich die Frage stellen, warum sie ihr gewohntes, liebevoll eingerichtetes Umfeld verlassen sollten, um sich zu verkleinern, wenn es keine Einsparungen bringt. Nach 35 Jahren bleibt sogar nur noch eine 3-Zimmer-Wohnung.

Langjährige Mieter müssen beim Umzug Abstriche machen

Zimmerzahl nach Umzug bei gleicher Miete im Kanton Zürich

Verweilbonus und Zimmerverlust
Quellen: BFS, Zürcher Kantonalbank

Zu GROSS oder zu klein

Erscheint ein Umzug nicht mehr als gangbare Alternative, beginnen Mieter sich mit der vorhandenen Mietwohnung zu arrangieren. Ist die Mietwohnung für ein junges Paar aufgrund des Familienzuwachses zu klein geworden, rückt man enger zusammen. Umgekehrt wird sich so manch ein Paar beim Auszug der Kinder oder eine Wohngemeinschaft beim Wegzug eines Mitglieds den Umzug in eine kleinere Wohnung gründlich überlegen. Der Zimmerverlust, respektive der Mietanstieg erscheint oftmals schlicht unattraktiv. Stattdessen lässt man ein Zimmer unbewohnt. Diese kostenminimierenden Verhaltensweisen sind stark vom Verweilbonus abhängig. Je grösser die Differenz zwischen der aktuellen Miete und der Miete bei einem Umzug, desto geringer die Motivation umzuziehen und desto häufiger wohnen die Mieter in unpassenden Wohnungsgrössen. Dies lässt sich am Vergleich der Stadt Zürich mit der Stadt Genf illustrieren. Die beiden Städte weisen ähnliche Nettomieten in bestehenden Mietverhältnissen auf. Gleichzeitig ist der Verweilbonus in der Stadt Genf fast doppelt so gross wie in Zürich. Als Folge sind in der Stadt Genf relativ zu Zürich mehr kleine Wohnungen überbelegt und mehr grosse Wohnungen unterbelegt. Die Anreize umzuziehen, wenn die Wohnung zu eng geworden ist oder wenn man die überzähligen Zimmer nicht mehr füllen kann, sind durch den grossen Verweilbonus gedämpft. Mieter sitzen bildlich gesprochen im goldenen Käfig. So schafft eine strikte Regulierung Fehlanreize und führt zu Ineffizienzen auf dem Mietwohnungsmarkt.

Bei grossem Verweilbonus lebt man lieber zu klein oder zu gross

Anteil unter- und überbelegter Wohnungen* der Städte Zürich und Genf

Verweilbonus
*Kleine Wohnungen: 1 bis 3 Zimmer Grosse Wohnungen: 5 und mehr Zimmer Unterbelegung, wenn Anzahl Personen kleiner als Zimmer minus 1 Überbelegung, wenn mehr Personen als Zimmer; (Quellen: GWS, BFS, Zürcher Kantonalbank)

Der Verweilbonus wird bleiben

Die Befunde veranschaulichen die Effekte der Regulierung im Mietwohnungsbestand. Dieser Teil des Mietwohnungsmarktes ist in der hitzig geführten Debatte zur Wohnungsknappheit aktuell häufig unterbelichtet. Es zeigt sich, dass Bestandesmieter erheblich weniger zahlen als Neumieter. Die Regulierung der Bestandesmieten hat viele Mieter vor steigenden Wohnkosten als Folge der Wohnraumknappheit geschützt. Gleichzeitig hat sie jedoch Fehlanreize geschaffen, die eine suboptimale Verteilung von Wohnraum begünstigen.

Die aus der Mietersparnis resultierende Reduktion der Umzugshäufigkeit betrifft nicht nur die Bestandesmieter, die ihren «Sitzlederbonus» nur schwer aufgeben können und sich lieber mit den Gegebenheiten arrangieren. Sie führt auch zu einer niedrigeren Anzahl frei werdender Wohnungen und trifft so auch die Neumieter, die auf den Markt drängen. Wenn es nicht so teuer wäre, würden wohl mehr Bestandesmieter den Schritt zum Umzug wagen. Damit stiegen die Chancen sowohl für Bestandesmieter als auch für Zuziehende, die genau passende Wohnung für die eigene Lebenssituation zu finden.

Dass die Kluft zwischen Bestandes- und Angebotsmieten bald sinkt, ist indes kaum zu erwarten. Zwar dürfte die erste Referenzzinserhöhung im Juni zu Mietsteigerungen für rund die Hälfte der Mieter geführt haben. Aktuell hat allerdings ebenso die Entwicklung der Angebotsmieten Fahrt aufgenommen. Für den Kanton Zürich rechnen wir in diesem bzw. im nächsten Jahr mit einem Anstieg von 5,5 Prozent bzw. 4,5 Prozent. Die steigenden Angebotsmieten reduzieren den Anreiz zum Umzug erneut. Die Kluft, die den Schweizer Mietwohnungsmarkt teilt, wird wohl so schnell nicht überwunden.

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