«Jede Frau sollte ihre eigene Finanz­ministerin sein»

Es gibt viele Gründe, weshalb sich Frauen frühzeitig mit dem Thema Altersvorsorge beschäftigen sollten. Im Gespräch nennen Verena Preisig, Leiterin der Ausgleichskasse bei der SVA Zürich, und Judith Albrecht, Leiterin Finanzberatung Zürcher Kantonalbank, die wichtigsten Punkte.

Interview: Susanne Wagner / Bilder: Lea Meienberg / Illustration: Maria Salvatore | aus dem Magazin «Meine Vorsorge» 3/2022

Verena Preisig und Judith Albrecht im Gespräch
Verena Preisig (links) und Judith Albrecht unterhalten sich über die AHV und die Vorsorge in den anderen Säulen.

Frau Preisig, Post von der SVA löst bei vielen Menschen nicht unbedingt Freude aus. Können Sie nachvollziehen, dass sich viele mit dem Thema Altersvorsorge immer noch schwertun?

Verena Preisig: Es ist wie so oft im Leben: Was wichtig ist, macht nicht nur Freude. Sozialversicherungen sind abstrakt – doch eben bedeutsam. Wer in der Schweiz wohnt oder arbeitet, muss in die Sozialwerke der 1. Säule einzahlen. Wer einen Brief von der SVA Zürich bekommt, weiss: Das ist wichtige Post.

Mit welchen Fragen wird die SVA Zürich am häufigsten konfrontiert?

Verena Preisig: Die meisten Fragen werden zur Prämienverbilligung und zu den Voraussetzungen für die Selbstständigkeit gestellt. Doch stellen wir auch fest, dass es für Versicherte oft nicht klar ist, wer für ihr Anliegen zuständig ist. Als Kompetenzzentrum für Sozialversicherungen sind wir die themenübergreifende Anlaufstelle für Fragen zur sozialen Sicherheit. Wir hören zu und klären zuerst die Frage. Wenn wir materiell nicht zuständig sind, zeigen wir auf, was der nächste Schritt sein kann.

Wieso sollten besonders Frauen Finanz- und Vorsorgefragen im Blick haben, Frau Albrecht?

Judith Albrecht: Weil sich im Hinblick auf die Vorsorge für Frauen und Männer die gleichen Fragen stellen: Mit welchen Leistungen kann ich im Risikofall (Invalidität oder Tod) rechnen? Wie hoch wird meine Rente sein? Wie viel zusätzliches Vermögen sollte ich fürs Alter ansparen? Denn eines ist sicher: Renten und Hinterbliebenenleistungen sind tiefer als das Erwerbseinkommen. Kurz: Jede Frau sollte ihre eigene Finanzministerin sein und sich unbedingt eigenständig um ihre Finanzen kümmern.

Verena Preisig, Leiterin Ausgleichskasse SVA Zürich

Wie beim Bankkonto sollte jede und jeder auch überprüfen, welche Beiträge auf dem AHV-Konto verbucht sind.

Verena Preisig, Leiterin Ausgleichskasse SVA Zürich

Welches sind weitere Gründe?

Judith Albrecht: In der Schweiz werden rund 40 Prozent der Ehen geschieden. Das hat Einfluss auf die Vorsorge. Zwar werden die Vorsorgeguthaben für die Ehejahre bei Scheidung je hälftig geteilt, jedoch hat die Frau dabei meist eine schwierigere Ausgangslage. Frauen übernehmen auch heute noch vielfach die Caretaker-Rolle in der Familie und arbeiten daher nur Teilzeit. Während der Mann seine Karriere während der Ehejahre vorantreiben konnte, muss die Frau nach der Scheidung erst wieder ins Berufsleben finden. Meist sind ihr Lohnniveau und damit die entsprechenden Vorsorgebeiträge und späteren Rentenleistungen tiefer.

Wie kann ich herausfinden, ob ich die volle AHV-Rente erhalten werde?

Verena Preisig: Aktuell muss eine Frau für eine volle AHV-Rente 43 Jahre lang einzahlen. Wir empfehlen, bei der Ausgleichskasse alle drei bis fünf Jahre einen Auszug aus dem AHV-Konto zu verlangen. Diese Dienstleistung ist kostenlos, liegt aber in der Eigenverantwortung. Niemand erinnert einen daran. Vielen ist nicht bewusst, dass AHV-Beiträge maximal fünf Jahre zurück nachbezahlt werden können.

Wie entstehen denn überhaupt Beitragslücken bei der AHV?

Verena Preisig: Mit 20 werden für gewöhnlich Pläne für den Berufsweg geschmiedet. Es gibt längere Reisen, überhaupt Auslandaufenthalte, es wird in Aus- und Weiterbildung investiert. Das sind auch Gründe für mögliche Beitragslücken, die entstehen, wenn der jährliche Mindestbeitrag nicht einbezahlt wird. Jede Veränderung ist ein Risiko: Krankheit, Unfall, Frühpensionierung etc. Wir interessieren uns für den Stand unseres Bankkontos. Mit der gleichen Selbstverständlichkeit sollte geprüft werden, welche Beiträge auf dem AHV-Konto verbucht sind. Vertrauen ist gut, aber Kontrolle muss sein.

Frauen und Vorsorge

Darauf kommt es an

Illustration Tipps Vorsorge AHV
Beitragslücken in der AHV sind vermeidbar

Darum empfehlen wir, alle drei bis fünf Jahre einen Auszug des eigenen AHV-Kontos zu verlangen. Schliessen Sie Beitragslücken in der AHV, indem Sie sie innerhalb von fünf Jahren nachbezahlen.

Klären Sie frühzeitig, wie hoch die Altersrente in der beruflichen Vorsorge sein wird

Prüfen Sie auch, was sonst noch an Vermögen vorhanden ist. Wer schon mit 20 an die Zeit der Pensionierung denkt, hat mehr finanzielle Mittel zum Leben nach der Pensionierung.

Bleiben Sie erwerbstätig, auch wenn Sie eine Familie gründen

Falls Sie ein tiefes Teilzeitpensum haben: Steigern Sie Ihr Pensum so, dass Sie in der 2. Säule versichert sind. Der grösste Teil der Vorsorge kommt vielfach aus der Pensionskasse. Darum ist sie so wichtig.

Sorgen Sie schon in jungen Jahren mit der Säule 3a vor

Schauen Sie sich je nach Risikobereitschaft das Wertschriftensparen an. Optimalerweise wählen Sie eine Lösung, die wenig kostet und eine gute Rendite erwirtschaftet.

Wann sollten Frauen anfangen, sich mit dem Thema Pensionierung zu beschäftigen?

Judith Albrecht: Sobald sie Geld verdienen. Je früher Frauen damit beginnen, desto grösser sind ihre Möglichkeiten, die eigene Vorsorge individuell und nach den eigenen Bedürfnissen zu beeinflussen.

Wo liegen beim Thema Vorsorge die Unterschiede zwischen den Geschlechtern?

Verena Preisig: Frauen widmen sich auch heute noch viel häufiger als Männer der Kinderbetreuung, der Hausarbeit oder der Pflege von Angehörigen. Dafür reduzieren sie ihr Pensum und können weniger für die Vorsorge einzahlen.

Judith Albrecht: Die Gesamtrenten der Frauen in der Schweiz sind durchschnittlich 37 Prozent tiefer als jene der Männer. Das hat mehrere Gründe: Das schweizerische Vorsorgesystem mit den drei Säulen hängt stark vom Erwerbseinkommen ab. Das heutige Vorsorgesystem ist auf eine 100-Prozent-Tätigkeit ausgelegt. Grundsätzlich gilt, je höher das Einkommen ist, desto höher sind die Einzahlungen. Aber sechs von zehn Frauen arbeiten Teilzeit und zahlen somit weniger in die eigene Vorsorge ein.

Nicht erwerbstätige Familienfrauen sollten also mindestens den minimalen Betrag in die AHV einzahlen?

Verena Preisig: Das empfiehlt sich auf jeden Fall. Wenn sie Kinder haben, erhalten sie Erziehungsgutschriften. Für die Betreuung von pflegebedürftigen Verwandten gibt es ebenfalls Gutschriften. Aber sie müssen trotzdem aufpassen, dass keine Lücke entsteht.

Judith Albrecht: Dabei ist es wichtig, zu unterscheiden: Die nicht erwerbstätigen verheirateten Frauen sind mit dem Mann mitversichert, wenn er erwerbstätig ist – für die Altersleistung auf der AHV-Seite, aber auch für die Risikoleistung, wenn dem Ehemann etwas zustossen sollte. Im Konkubinat ist die Frau in der ersten Säule jedoch nicht automatisch mitversichert, wenn sie nicht arbeitet. In diesem Fall müssen Frauen aktiv werden und Nichterwerbstätigen-Beiträge entrichten. In der zweiten Säule erhält die nicht verheiratete Frau nur Leistungen, wenn das Reglement der Pensionskasse des erwerbstätigen Partners dies vorsieht. Die Frau muss in der Regel als Begünstigte bei der Pensionskasse eingetragen werden.

Verena Preisig: Ein weiteres Thema ist die Selbstständigkeit. Wer diesen Schritt wagt, kann dafür Geld aus der zweiten Säule beziehen. Doch etwa die Hälfte der Selbstständigen scheitert, dann fängt die- oder derjenige wieder von vorne an mit der 2. Säule.

Judith Albrecht, Leiterin Finanzberatung Zürcher Kantonalbank

Die wichtigste Altersvorsorge ist – unabhängig von der gewählten Lebensform –, erwerbstätig zu bleiben.

Judith Albrecht, Leiterin Finanzberatung Zürcher Kantonalbank

Leider ist Altersarmut bei Frauen in der Schweiz keine Seltenheit. Stellen Sie das bei der SVA Zürich auch fest?

Verena Preisig: Es ist die Angst vor der Armut im Alter, die belastet. Aber wer Anspruch auf eine AHV-Rente hat, muss ja nicht den Gang aufs Sozialamt machen, sondern kann Antrag auf Ergänzungsleistungen stellen. Das entlastet. Aber es ist richtig, dass das Armutsrisiko mit dem Alter zunimmt.

Haben diese Zahlen denn zugenommen?

Verena Preisig: Der Bedarf für Ergänzungsleistungen ist allgemein steigend. Wer nicht oder nur wenig in die 2. Säule einbezahlt hat und alleinstehend ist, benötigt in der Regel zusammen mit der 1. AHV-Rente auch Ergänzungsleistungen. Allgemein werden wir auch immer älter, und damit steigt die Wahrscheinlichkeit, irgendwann auf Pflege angewiesen zu sein. Wenn bis dahin noch Erspartes vorhanden war, schmelzen die Mittel schnell dahin.

Kann eine gute Vorsorgeplanung vor Altersarmut schützen?

Judith Albrecht: Ja. Je früher die eigene Situation transparent ist, desto eher lässt sie sich verändern. Die wichtigste Altersvorsorge ist, unabhängig von der gewählten Lebensform, erwerbstätig zu bleiben. Solange es vor allem die Frauen sind, die Kinder betreuen und Teilzeit arbeiten, wird es bei ihnen immer Vorsorgelücken geben. Darum ist die 3. Säule im Vorsorgesystem so wichtig – nicht nur für Frauen, aber vor allem auch für sie. Denn in Phasen, in denen weniger verdient wird, sollte möglichst zusätzlich in die dritte Säule eingezahlt werden, um ein entsprechendes Vorsorgekapital aufzubauen.

Aber um in die 3. Säule einzahlen zu können, muss eine Erwerbstätigkeit gegeben sein?

Judith Albrecht: Ja. Die Grundvoraussetzung, um in die 3. Säule einzuzahlen, ist ein AHV-pflichtiges Einkommen. Ist es nicht vorhanden, lässt sich über die Säule 3b – also das freie, private Sparen – vorsorgen. Zudem sollte immer auch das Wertschriftensparen angeschaut werden.