Goods Werk und Diegos Beitrag

Neuankömmling statt Neuankauf: Diego Wider, Mitglied der Kunstkommission der Zürcher Kantonalbank, stellt in dieser Kunstserie «Güterbahnhof» von Andrea Good vor.

Text: Markus Wanderl / Bilder: Flavio Pinton

Kunstserie: Diego Wider vor dem Werk Güterbahnhof von Andrea Good
Es ist der Blick eines Kenners: Diego Wider betrachtet «Güterbahnhof» von Andrea Good.

Wer früher Fotos in einer behelfsmässigen Dunkelkammer entwickelt hat, der wird sich ins Gedächtnis rufen können, welcher Akkuratesse es bedurfte, damit es gut ging. Es hatte zunächst Nacht zu werden im provisorisch und doch nach allen Regeln der Verdunkelungskunst abgedeckten Raum, manchmal genügte dafür eine schwarze Decke. So dunkel wie des Nachts in den dunkelsten Orten der Schweiz war es dann, wie in der Region Engiadina Bassa im Val Müstair etwa oder in Disentis/Mustér in Surselva.

Jeder noch so kurze Lichteinfall von aussen würde das gewünschte Ergebnis zunichtemachen, und so war ein Raum ohne Fenster umso besser – so mussten nur die Türspalte und unbedingt das Schlüsselloch abgedunkelt werden. Dann wurde solange im Dunkeln getappt, bis es doch Licht wurde. Sogenanntes Licht in Wellenlängen kam zum Zuge, das rötliche für die Schwarzweissfotografie, das schwächlich grünliche fürs Negativfilmmaterial – darauf reagiert lichtempfindliches Material wie Fotopapier jeweils nicht.

Inwiefern wiederum Fotopapier, das in Meterlänge und -breite nur noch schwer zu erwerben ist, Szenerien abbildet, wenn die uralte Camera-Obscura-Technik angewendet wird, und dies auch noch unter Hinzunahme eines riesenhaften Containers als dunkle Kammer – das fasziniert Diego Wider. Der Leiter des Kultursponsorings der Zürcher Kantonalbank könnte getrost auch im Kunsthaus aus dem Stegreif über Andrea Goods Werk «Güterbahnhof» referieren – siehe bitte gleich unten – so wunderbar tief und nah am Werk interpretiert er.

Werk Güterbahnhof von Andrea Good
Andrea Good, Güterbahnhof Zürich, 2001, Fotografie auf Ilfochrome, Camera obscura 127 x 390 cm. Mit freundlicher Genehmigung der Künstlerin.

Tagelange Belichtungszeit

Camera Obscura? Manch eine(r) wird in der Schulzeit etwa mithilfe einer Ovomaltine-Büchse jenes physikalische Prinzip kennengelernt haben, wonach ein Lichtstrahl, der durch ein noch so kleines Loch in einen dunklen Raum fällt, auf der gegenüberliegenden Wand das farbige, verkleinerte, Kopf stehende und spiegelverkehrte Bild dessen zeigt, was ausserhalb des Raumes liegt. Für das in unserem Besitz befindliche Werk, das im Hauptsitz im 2. UG ausgestellt ist, stellte Andrea Good im Jahr 2001 einen Container am Zürcher Güterbahnhof ab und belichtete Fotopapier im wandfüllenden Querformat durch ein nur ein Millimeter grosses Loch – doch dies 45 Stunden lang.

Das mit jener Lochkamera erzielte Ergebnis ist im Allgemeinen ein Gegenentwurf zu den Resultaten digitaler High-Tech-Kameras in Form milliardenfach produzierter Schnappschüsse und im Besonderen ein Unikat durch die ganz eigene Bildrealität.

Zu sehen ist eben nicht das für einen Güterbahnhof typische Treiben, das es auch während jener 45 Stunden Belichtungszeit Goodscher Prägung gegeben haben dürfte; also sind keine ein- und ausfahrenden Güterzüge wahrzunehmen, keine Arbeiter, die mit dem Gabelstapler die Waggons bestücken, zu sehen; aber es ist auch nicht der vorbeisausende Skateboarder und nicht das zügig den Asphalt querende Paar festgehalten. «Nur was von Dauer ist, ist gespeichert», wie es Diego Wider formuliert, also alles das, was fix an einem Ort befindlich ist: Etwa Häuser und Hochspannungsleitungen, die Viaduktbögen und der Hochturm der Kehrichtverbrennungsanlage.

Entschleunigte Szenerie

Dass allerdings jene Waggons, die während der Zeit bewegt wurden, sich nach dem Entwickeln schemenhaft wie ineinandergeschoben darstellen und somit doch einen Hauch Leben abbilden, das verdankt sich der Erfahrung, die die in Zürich lebende und arbeitende Künstlerin mit der Camera-Obscura-Technik hat. Doch hat sie dem Schauplatz jegliche Hektik genommen, und «der Mensch ist ein quantité négligeable», sichtbar nur durch seine Spuren, die er seit je und überall hinterlässt, auch in Landschaften, die keine Sehnsuchtslandschaften sind. Und nun, Bühne frei für Diego Wider.

Kunstserie: Diego Wider vor dem Werk Güterbahnhof von Andrea Good
Ob das Kunstwerk Diego Widers Lächeln verantwortet? Lassen wir es offen.

«Vorweg: Ich finde, das Bild passt einfach auch gut zu der Zürcher Kantonalbank, als ein 45-stündiger Zeitzeuge innerhalb unseres Kantons, unserer Stadt; das Bild hat eine Geschichte, die offensichtlicher mit der unsrigen ist, als das bei manch einem anderen Bild der Fall sein mag. Lüden wir jemanden auf der Bahnhofstrasse spontan ein, einmal bei uns das Bild zu betrachten, würde die- oder derjenige rufen: Das ist doch das Viadukt! Das ist doch der Kamin der Kehrichtverbrennungsanlage!

Den Aspekt der Wiedererkennung finde ich schon sehr spannend, weil: Die Leute kennen die Szenerie, es ist ihre Stadt. Und dann kennen sie sie doch nicht, weil die Existenz, der Mensch etwa, dort nicht existent ist; weil sich die Szenerie, das Gebiet im Vergleich zu heute verändert hat. Es sind nur die Spuren des Menschen da. Dass es wie ein Blick in eine Welt ohne Menschen wirkt, macht das Bild vielleicht etwas unheimlich und melancholisch. Und gleichzeitig empfinde ich es mit seinen leicht unscharfen Blautönen voller Poesie – und Magie.

Zufall und Magie

Wie die Künstlerin diese Umgebung dem Zufall überlässt, eben durch diese ganz, ganz lange Belichtungszeit, und sie dann trotzdem moderiert, indem sie ihren Container eben auf genau diesem Platz am Güterbahnhof abstellt, den Winkel auswählt, in dem er zu stehen hat, wie sie also vorher für sich beschliesst, genau diese Seite von Zürich-West aufzunehmen, und das dann in der Folge das passiert, was einfach passiert – das ist es, was ich mit Magie meine: Sie überlässt das Entstehen des Bilds sich selbst, es konzipiert sich von allein, es fängt von sich selbst aus zu leben an – diese lang belichtete Aufnahme inklusive des Zufallsfaktors, das ist eine sehr treffliche Kombination.

Gerade weil so lang belichtet wird, verschwimmt natürlich auch alles, wird schemenhaft; was hektisch ist, ist nicht fassbar. Als der Mensch Ende der 1830er Jahre bei der Fotografie «Boulevard du Temple» von Louis Daguerre vermutlich zum ersten Mal wie gefasst wurde in ein Foto – warum war er damals erkennbar? Weil er sich während der zehnminütigen Belichtungszeit der Aufnahme beim Schuhputzer die Schuhe hat putzen lassen – nur so wurde er zufällig für die Nachwelt festgehalten.

Der Lauf der Zeit

Jenes Schemenhafte des Bildes hier und dort fordert einen zweiten Blick geradezu heraus, so gefällt mir auch der Lichtstrahl sehr, als Lauf der Zeit, der die Sonne nachzeichnet; es hat etwas Apokalyptisches, wie er da vom Himmel hinunterschiesst und auf die Erde trifft, wie ein Blitzschlag; aber eben, es ist bloss der Lauf der Zeit. Wäre es während der 45 Stunden ausschliesslich bewölkt gewesen, wären vielleicht nur Punkte dargestellt gewesen, so aber wissen wir, die Sonne schien in einem fort und es ist ein breiter Schweif geworden.

Das Bild in dieser Weise aufgenommen zu haben, gründet auf einer am Ende doch recht simplen Technik, die sich Andrea Wood perfekt zu eigen macht. Die Camera Obscura, die Lochkamera, sie ist der Urtyp allen Belichtens. Dass sich jemand in einer hypermodernen Welt die Mühe macht, mit einer solch alten Technik zu arbeiten, das gefällt mir.

Wie meine Vorgängerinnen und Vorgänger in dieser Kunstserie möchte auch ich betonen: Die Unterstützung von Kunstschaffenden durch den Ankauf von Werken finde ich sehr wichtig. Den Künstlerinnen und Künstlern wird dadurch auch eine Plattform geboten – ihre Werke sind im ganzen Kanton in den Räumlichkeiten der Bank platziert und werden so einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Ganz eindeutig: Mit der Sammlungstätigkeit fördert unsere Bank das kulturelle Schaffen und die Kreativwirtschaft im Sinne unseres Leistungsauftrags und nimmt so gesellschaftliche Verantwortung wahr.»

Die Künstlerin: Andrea Good

Andrea Good (*1968) arbeitet seit ihrer Ausbildung als Fotografin mit Lochkameras. Das Prinzip der Camera obscura setzt sie in ungewohnt grossen Dimensionen um. Schiffscontainer und Räume, vom Hotelzimmer bis zur Kirchenhalle, dienen ihr als Lochkamera. Ihre Arbeiten fanden Eingang in private, öffentliche und institutionelle Sammlungen. Sie lebt und arbeitet in Zürich.

Kreativwirtschaft im Kanton unterstützen

Die Zürcher Kantonalbank fördert im Sinne des Leistungsauftrages die Kreativwirtschaft im Kanton und sammelt seit bald zwanzig Jahren Zürcher Gegenwartskunst. Über 1'000 Werke, die diesem Konzept entsprechen, nennt unsere Bank ihr Eigen. Die Entscheidung, ob und welche neuen Werke angekauft werden, trifft die Fachstelle Kunst unter Einbeziehung der Kunstkommission nach sorgfältiger Abwägung.

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