«Immobilien aktuell»: Mieter im goldenen Käfig

Warum Zürich eine Hochburg von Langzeitmietern ist, Einfamilienhäuser gerade an attraktiven Lagen zur Miete ausgeschrieben werden und es nicht immer ein Ersatzneubau sein muss – in der neuesten «Immobilien aktuell»-Publikation finden sich wieder viele spannende Themen. Und, wie gewohnt, ebenso die aktuellen Prognosen zu den Immobilienmärkten. Erfahren Sie mehr im Interview mit Ursina Kubli, Leiterin Immobilienresearch bei der Zürcher Kantonalbank.

Interview: Johanna Stauffer

«Wer vor 25 Jahren in eine Vier-Zimmer-Wohnung gezogen ist, würde heute für den gleichen Preis nur noch eine Zwei-Zimmer-Wohnung finden.» Ursina Kubli zur Problematik im Mietmarkt. (Bild: Selina Meier)

Ein Schwerpunktthema der neuesten «Immobilien aktuell»-Publikation ist der Verweilbonus. Was kann ich mir darunter vorstellen?

Mieten in bestehenden Mietverhältnissen blieben in der Schweiz seit 2008 relativ stabil, während die Angebotsmieten im gleichen Zeitraum um knapp 25 Prozent gestiegen sind.
Bestehende Mieten sind durch Regulierungen geschützt und dürfen nur in seltenen Fällen angepasst werden. Die Kluft zwischen Angebots- und Bestandsmieten steigert die finanzielle Motivation, in den eigenen vier Wänden zu bleiben.

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Wie hoch sind die Einsparungen etwa?

Beispiel Stadt Zürich: Gemäss unserer Analyse zahlen Bestandsmieter im Schnitt fast 30 Prozent weniger als Neumieter, das sind 5'300 Franken jährlich. Summiert man dies über alle Miethaushalte in der Stadt Zürich, ergibt sich eine insgesamte jährliche Mietersparnis von CHF 1,1 Milliarden. Dieser finanzielle Anreiz – wir definieren ihn als Verweilbonus – hält viele vom Umzug ab. So wohnen in der Stadt Zürich Mieter im Durchschnitt über zehn Jahre in ihrer Wohnung; ein Fünftel sogar schon über 20 Jahre.

Ist der Verweilbonus vor allem ein Stadtthema?

In den Städten ist dieser sicherlich ausgeprägter; doch auch über die gesamte Schweiz hinweg sehen wir einen durchschnittlichen Verweilbonus von immerhin 14 Prozent. Grundsätzlich gilt: Je regulierter der Mietwohnungsmarkt ist, desto grösser fällt der Verweilbonus aus. So sparen in Genf – ein Paradebeispiel für einen hoch regulierten Mietmarkt – Bestandsmieter jährlich im Schnitt über 10'000 Franken im Vergleich zu Neumietern.

Zu welchen Ineffizienzen führt der Verweilbonus?

Ich sehe hier allem voran ein Verteilungsproblem. Die Mieter bleiben in ihren Wohnungen, obwohl sie zu klein sind, zu gross sind oder aus sonstigen Gründen eigentlich nicht mehr passen. Gemäss unseren Analysen leben in der Stadt Zürich in 65 Prozent aller grossen Wohnungen weniger Personen als die Zimmerzahl minus 1 und sind nach dieser Definition unterbelegt. Aber: Ein Umzug in eine kleinere Wohnung ist eben nicht selten mit höheren Kosten verbunden.

Inwiefern?

Als Beispiel: Wer vor 25 Jahren in eine Vier-Zimmer-Wohnung gezogen ist, würde heute für den gleichen Preis nur noch eine Zwei-Zimmer-Wohnung finden. Kein Wunder, entscheidet sich manche Mieterin oder mancher Mieter eher dafür, ein Zimmer leer stehen zu lassen, als einen Umzug in eine kleinere, dafür teurere Wohnung zu wagen.

Was könnten Lösungen sein?

Die Regulierungen der Bestandsmieten erleichtern zwar die Situation der Bestandsmieter, am Grundproblem ändern sie jedoch nichts: Es braucht dringend mehr Wohnungen in der Schweiz. Die Bautätigkeit hält nicht Schritt mit dem Bevölkerungswachstum. Ein nicht zu unterschätzender Grund sind hier die zahlreichen Einsprachen und Rekurse – wir erinnern uns: Dies war das Hauptthema der letzten «Immobilien Aktuell»-Publikation.

Inwieweit könnte Bauen im Bestand – also Anbauten oder Aufstockungen – eine Lösung für den Wohnungsnotstand sein?

Die Akzeptanz der Bevölkerung dürfte hier sicherlich höher ausfallen als bei Verdichtung durch Ersatzneubauten – das heisst, es wären wohl weniger Einsprachen zu erwarten. Bauen im Bestand spielt bislang noch eine eher untergeordnete, aber trotzdem nicht zu unterschätzende Rolle. So sind in den letzten fünf Jahren im Kanton Zürich durch Bauen im Bestand jährlich etwas mehr als 1'400 Wohnungen entstanden – 14 Prozent des gesamten Wohnungsneubaus. Gerne kommt es bei den schönen Altbauten aus dem Anfang des 20. Jahrhunderts zur Anwendung; Häuser aus der Nachkriegszeit werden hingegen eher abgerissen.

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Ursina Kubli, Leiterin Immobilien Research (Videoproduktion: Flavio Pinton) Immobilien aktuell Nov. 2023

Kürzlich wurde auf politischer Ebene die Möglichkeit zu grossflächigen Aufstockungen in der Stadt Zürich diskutiert. Der entsprechende Vorstoss wurde abgelehnt. Hätte eine Annahme zu deutlich mehr Wohnungen geführt?

Grundsätzlich gäbe es in der Stadt Zürich ein beachtliches Aufstockungspotenzial. Doch Aufstockungen sind aufwendig und kostspielig. Üblicherweise wird aufgestockt, wenn ein Gebäude sowieso saniert wird. Eine Aufstockung in einem intakten Mehrfamilienhaus ist hingegen unüblich. Mit einer raumplanerischen Erleichterung allein wäre es also wohl nicht getan. Das zeigt auch unsere Analyse rund um die grosse Revision der Bau- und Zonenordnung (BZO) in der Stadt Zürich. Diese ist 2018 in Kraft getreten und hat Aufstockungen begünstigt. Trotz dieses regulatorischen Rückenwindes konnten wir jedoch keinen Anstieg der Aufstockungstätigkeiten ausmachen.

Ein weiteres Thema eurer Immobilienpublikation sind Einfamilienhäuser (EFH) zur Miete. Handelt es sich hier um ein Nischenphänomen?

Derzeit sind schweizweit 13 Prozent aller EFH vermietet, wobei der Anteil in den letzten Jahren gestiegen ist. Interessant ist, dass insbesondere an attraktiven Lagen EFH zur Miete ausgeschrieben werden. So belegt die Stadt Zürich mit einem Anteil von 22 Prozent den Spitzenplatz bei Miet-EFHs. Zählen wir Genossenschaften mit, würde in jedem zweiten Einfamilienhaus in Zürich ein Mieter die Türe öffnen. Auch rund um den Zürichsee, in den Bezirken Horgen und Meilen, finden viele Einfamilienhäuser ihren Weg auf den Mietmarkt.

Warum wird an attraktiven Lagen eher vermietet?

Ein Einfamilienhaus in der Stadt Zürich ist wie ein Sechser im Lotto. Es wird ungern aus den Händen gegeben. Eine Vermietung gibt dem Eigentümer Optionen. So kann zum Beispiel die Zeit überbrückt werden, bis der eigene Nachwuchs einziehen möchte. Bei Doppeleinfamilienhäusern sehen wir häufig, dass gewartet wird, bis auch der Nachbar an einem Verkauf interessiert ist.

Wird sich das Angebot an Miet-EFH noch erhöhen?

Wir erwarten, dass der Anteil der Miet-EFH an attraktiven Lagen noch weiter steigt. In der Stadt Zürich sind die Hälfte aller EFH-Besitzer über 60 Jahre alt. Immer mehr Eigentümerinnen und Eigentümer stehen daher bald vor der Entscheidung, das eigene Haus bei einem Verkauf aufzugeben, oder es eben zu vermieten und so daran festzuhalten.

Was muss ich als Interessent beachten?

Mietinteressenten sollten sich gut über die Nebenkosten informieren. Diese liegen meistens über denen einer vergleichbaren Mietwohnung – und sind nicht immer transparent im Inserat aufgezeigt. Gerade bei älteren Häusern mit Öl- oder Gasheizung können die Nebenkosten hoch ausfallen. Bei Objekten mit Umschwung kommen je nach Mietvertrag noch die Ausgaben für den Gärtner hinzu. Ausserdem werden viele Häuser nur befristet vermietet. Wobei dies auch einen Vorteil mit sich bringt: Befristete Objekte sind im Schnitt 17% günstiger als vergleichbare unbefristete EFH.

Werfen wir zum Schluss noch einen Blick auf den Eigenheimmarkt. Euer Zürcher Wohneigentums-Index (ZWEX) wies für das dritte Quartal 2023 erstmals ein leicht negatives Vorzeichen auf. Wie geht es weiter – werden die Immobilienpreise fallen?

Nein. Wir gehen insgesamt von einer Seitwärtsbewegung aus. Für 2023 erwarten wir im Kanton Zürich ein Preiswachstum von 2 Prozent, im kommenden Jahr von immerhin noch 1 Prozent (schweizweit 1 beziehungsweise 0,5 Prozent). Aber es wird nicht mehr alles zu jedem Preis gekauft.

Prognosen zum Wohnungsmarkt

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Die Prognosen des Immobilienresearchs - das Preiswachstum von Wohneigentum verlangsamt sich; Angebotsmieten steigen deutlich.

Ist die Lage umso massgeblicher?

Das Preis-Leistungsverhältnis muss stimmen – das gilt genauso für gute wie für schlechte Lagen. Überrissene Preise, so wie wir sie während der Pandemie gesehen haben, werden nicht mehr gezahlt.


Was bedeutet die Entwicklung für Kaufinteressenten?

Kaufinteressenten haben wieder mehr Zeit für vertiefte Abklärungen. Sie können beispielsweise noch einen Architekten zurate ziehen oder ein Objekt mehrfach besichtigen. Aus finanzieller Motivation wird im Gegensatz zu früher nicht mehr gekauft. Wer sich jetzt für eine Immobilie entscheidet, will, dass wirklich alles stimmt. Das sehen wir übrigens auch an den Freihandtransaktionen; diese waren im ersten Halbjahr 2023 im Kanton Zürich so niedrig wie noch nie zuvor. Das ist tatsächlich vor allem auf die Nachfrageseite zurückzuführen:

Wie sieht die Situation auf der Angebotsseite aus?

Das Angebot ist überschaubar, aber immerhin auf leicht höherem Niveau als bisher. Was auffällt: Es braucht vermehrt einen zweiten Vermarktungsversuch, nicht selten einhergehend mit einem niedrigeren Preisschild. Insbesondere professionelle Verkäufer wissen die längere Vermarktungszeit raffiniert zu verbergen; häufig wird beim ersten Vermarktungsversuch auf die genaue Adresse verzichtet und beim zweiten Versuch werden andere Bilder genutzt.

Kommen wieder häufiger Makler zum Zuge?

Während der Pandemie hatten sich vermehrt Eigentümer den Verkauf selbst zugetraut, über ein Viertel aller Immobilienverkaufsinserate wurden im Kanton Zürich damals von Privatpersonen inseriert. Da sehen wir jetzt wieder eine gewisse Gegenbewegung; aktuell liegt der Anteil bei 21 Prozent.