Roter Faden? Weisse Linien

Trittsicher: In der sechsten Folge dieser Kunstserie zu den Neuankäufen 2020 stellt Miriam Caflisch ihr besonderes Kunstwerk vor.

Text: Markus Wanderl / Bilder: Flavio Pinton

Markierungen sind Leitlinien – ohne sie gäbe es keine Orientierung: Miriam Caflisch am Bürkliplatz.

Wer auf den Strassen unserer schönen Stadt aufmerksam unterwegs ist, der wird sie kennen, jene verschiedenfarbige Linien auf dem Boden – doch sind hier nicht bloss jene breiteren des Zebrastreifens gemeint.

Dürfte dieser zwar die markanteste und ganz sicher kosmopolitischste Strassenmarkierung darstellen, sind es andere Kenntlichmachungen, die zwar im Schatten des Zebrastreifens stehen mögen, aber unbedingt ebenfalls einen unverzichtbaren Zweck erfüllen. Denn gäbe es jene taktilen, also mithilfe des Tastsinns zu erschliessenden weissen Leitlinien etwa auf den Trottoirs nicht, könnten sich blinde, überhaupt sehbehinderte Menschen dort ungleich schlechter orientieren – und sie liefen gemäss eigenem Bekunden stattdessen vor allem Routine-Wege ab. Um ihrer Sicherheit willen.

Der in Zürich lebende Künstler Peter Baracchi lenkt in seinem Werk «Ornamental Whiteout 4» die besondere Aufmerksamkeit auf dieses Thema – und dass es Miriam Caflisch, Kunstvermittlerin bei der Fachstelle Kunst der Zürcher Kantonalbank, heute in der 6. Folge dieser Kunstserie zu den Neuankäufen 2020 vorstellt, hat zunächst damit zu tun, dass es mitunter nicht bei einem flüchtigen Blick bleibt: Weil man schlagartig eben doch von etwas in den Bann gezogen ist, wie sich schon im nächsten Moment herausgestellt hat.

Peter Baracchi, Ornamental Whiteout 4, 2019, Zweikomponenten Kaltplastik auf Leinwand auf Holz, 90 x 90 x 4.5 cm. Mit freundlicher Genehmigung des Künstlers.
Peter Baracchi, Ornamental Whiteout 4, 2019, Zweikomponenten Kaltplastik auf Leinwand auf Holz, 90 x 90 x 4.5 cm. Mit freundlicher Genehmigung des Künstlers

Jener flüchtige Blick also. Oder so erzählt: Man muss sich vorstellen, dass Miriam Caflisch an einem Frühjahrstag im vergangenen Jahr im Kunst(Zeug)Haus Rapperswil schon so gut wie am Bild von Peter Baracchi vorbeigerauscht – pardon – vorbeigegangen war; noch war das Museum coronabedingt nicht geschlossen. «Ich dachte nur kurz, schon oft gesehen, weisse Bilder und ein Quadrat – da ist wohl jemand wieder am faszinierenden Nullpunkt der Malerei angelangt.»

Von Funktionen in urbanen Zentren

Aber eben: Miriam Caflisch blieb doch länger stehen, sie erkannte den pastosen, also dickeren und eine reliefartige Malweise meinenden Farbauftrag, sie sah die hervorgehobenen und präzise angeordneten Linien, und ihr wurde klar, dass der Künstler Baracchi hier die in unseren urbanen Zentren allgegenwärtigen Strassenmarkierungen auf eine Leinwand gemalt hatte; versinnbildlichend, dass geometrische und symmetrische Formen im öffentlichen Raum bestenfalls eine klare Funktion haben, wobei der jahrzehntealte, längst verblasste Überrest einer Überholverbotslinie selbstredend nicht dazuzuzählen ist.

Was erreicht Baracchi? Indem er die Markierungen von ihrem eigentlichen Ursprung entfremdet, sie aus dem Zusammenhang reisst, gelingt es ihm, ihnen die Aufmerksamkeit zuteilwerden zu lassen, die sie im öffentlichen Raum mitunter gar nicht haben. Hand aufs Herz: Hat jede(r) von den taktilen weissen Linien, die sehr fein sind, als Hilfe für Sehbehinderte gewusst? Von den ornamentalen Mustern, die unser Strassenbild zieren?

Dass Baracchi sich aus einem reichen Fundus an taktilen Markierungen bedienen kann, ist das eine, das andere ist, dass dies immer unter Einhaltung der Normen geschieht. So verwendet er die originale Strassenmarkierungsfarbe, sie wird zudem mittels Schablonen massstabsgetreu, also in den gewohnt exakten Abständen auf die Leinwand gegossen; und weil die grafischen Elemente mitunter neu kombiniert werden, ergeben sich völlig neue, abstrakte Muster.

Phänomen Whiteout

Ein schneebedeckter Boden und gedämpftes Sonnenlicht lassen den Horizont mitunter verschwinden, Boden und Himmel gehen dann nahtlos ineinander über, Konturen und Schatten sind nicht mehr zu erkennen – zur Wahrheit gehört eben auch, dass Linien und Muster ihre Funktion verlieren können, ihre Sprache. Es ist als ein meteorologisches Phänomen bekannt: Whiteout. Dann ist nicht nur der Nichtsehende mit Desorientierung konfrontiert!

Miriam Caflisch, Kunstvermittlerin bei der Bank.
Miriam Caflisch, Kunstvermittlerin bei der Bank.

«Peter Baracchi macht mir augenblicklich bewusst, dass unser aller Umgebung ‹bemalter ist›, als wir dies tagein, tagaus wahrnehmen. Linien in allen möglichen Farben durchkreuzen, überqueren, mal schmal, mal breit unsere Umwelt. Allesamt sind sie Orientierungshilfen, nicht nur für Sehbehinderte. Baracchi berührt schlicht viele meiner Sinne. Viele dürften wissen, wie es sich anfühlt, wenn man eine solche Linie beim Überqueren der Strasse unter den Schuhen hat. Auch wenn das Kunstwerk tatsächlich weder im Museum noch aktuell bei uns unten im Lager danach riecht – die Erinnerung an den zu einer anderen Begebenheit erlebten und da kaum auszuhaltenden Gestank jener Zweikomponenten-Kaltplastik sticht mir immer noch regelrecht in der Nase. Und schliesslich hat Baracchi eine äusserst exakte Handarbeit geschaffen, nämlich unter Verwendung einer klebrigen Masse eine weisse Fläche, die meine Augen nicht ruhen lässt, sondern sie mal hier- und mal dorthin leitet. Wie mir Schatten, Licht, Struktur, Aufbau und Form begegnen – es ist durchweg ein stimmungsvolles Erkennen. All dies, ob Wahrnehmung, Handwerk oder die Idee hinter einem Werk, sind der Kunst immanente Themen. Darüber zu sprechen und sich auszutauschen strebt die Kunstvermittlung an; jede gemeinsame Diskussion über Kunst bringt uns weiter, trägt zu unserer Orientierung bei.»

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Die Zürcher Kantonalbank fördert im Sinne des Leistungsauftrages die Kreativwirtschaft im Kanton und sammelt seit bald zwanzig Jahren Zürcher Gegenwartskunst. Über 1'000 Werke, die diesem Konzept entsprechen, nennt unsere Bank ihr Eigen. Die Entscheidung, ob und welche neuen Werke angekauft werden, trifft die Fachstelle Kunst unter Einbeziehung der Kunstkommission nach sorgfältiger Abwägung.

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