«Kinder und Jugendliche haben ein Recht auf Mitbestimmung»

Junge Stimmberechtigte sind nicht nur eine Minderheit, sie stimmen auch nur sporadisch ab. Wie lässt sich da ein politisches Gleichgewicht wahren zwischen Alt und Jung? Indem Kinder und Jugendliche mehr mitreden dürfen und sie an eine aktive Bürgerrolle herangeführt werden, sagt Livia Lustenberger, Jugendbeauftragte des Kantons Zürich.

Interview: Simona Stalder / Bilder: Marvin Zilm | aus dem Magazin «ZH» 1/2022

Porträt von Livia Lustenberger, Jugendbeauftragte des Kantons Zürich
Livia Lustenberger: «Schon Kinder sollten erfahren: Meine Stimme wird gehört.»

Livia Lustenberger, junge Menschen sind in den Medien, insbesondere im Film und in der Werbung, omnipräsent. Es entsteht der Eindruck, der Jugend gehöre die Welt. Überhaupt strebt alles nach Jugendlichkeit. Deckt sich das mit Ihrer Wahrnehmung?

Das Streben nach einem jugendlichen Äusseren nehme ich auch wahr. In journalis­tischen Medien hingegen, dort also, wo Sichtweisen und Interessen verhandelt werden, ist die Jugend kaum sichtbar. Beispiel Corona-Pandemie: Die Anliegen von Kindern und Jugendlichen waren in der öffentlichen Debatte kaum ein Thema. Es wurde höchstens darauf hingewiesen, dass sich ein Teil der Jugend­lichen nicht an die Massnahmen hält oder psychisch stark belastet ist. Das ist aber nicht repräsentativ. Einmal mehr wurde vor allem über die Jugend gesprochen, statt dass man sie selbst zu Wort kommen liess.

Auch in Wirtschaft und Politik haben junge Menschen selten das Wort. Für viele Machtpositionen qualifiziert man sich erst ab einem gewissen Alter: So liegt etwa das Durchschnittsalter in den Geschäftsleitungen der SMI-Firmen laut Schilling-Report 2022 bei 54 Jahren, im Schweizer Bundesrat sogar bei 61 Jahren. Warum?

Ich spreche lieber von Verantwortung als von Macht. Um Verantwortung für ein Unternehmen oder die Geschicke eines Landes zu übernehmen, braucht es Erfahrung. Sollen mehr junge Menschen in verantwortungsvolle Positionen rücken, müssen sie rechtzeitig an eine solche Rolle herangeführt werden. Kinder und Jugendliche brauchen die Möglichkeit, Bereiche des Lebens, die sie direkt betreffen, mitzugestalten. Ich denke da etwa an das familiäre Umfeld, die Schule, den Verein, das Quartier oder die Gemeinde als kleinste politische Einheit. Das sind gute Übungsfelder, um sich einzubringen und dem Alter entsprechend Verantwortung zu übernehmen.

Laut Avenir Suisse wird 2035 die Hälfte der Stimmberechtigten in der Schweiz über 60 Jahre alt sein. Es drohen eine Gerontokratie – eine Herrschaft der Alten – sowie ein Reformstau, wie wir ihn bei der Altersvorsorge bereits heute haben.

Es scheint naheliegend, dass bei der aktuellen demografischen Entwicklung die Interessen jüngerer Bevölkerungsteile an der Urne künftig noch weniger Gewicht haben werden. Vergessen gehen bei dieser Diskussion Kinder und minderjährige Jugendliche – sie sind nicht stimmberechtigt.

Benötigen sie eine stärkere Lobby?

Es ist die Aufgabe von uns Erwachsenen, Strukturen und Gefässe zu schaffen, damit Kinder und Jugendliche sich selbstständig einbringen und angemessen an der Gestaltung ihrer Lebenswelt teilhaben können. Das ist keine freiwillige Aufgabe, sondern ein Auftrag, der sich aus der UN-Kinderrechtskonvention ergibt, die die Schweiz 1997 ratifiziert hat. Die Konvention besagt, dass Kinder und Jugend­liche ein Recht auf Teilhabe und freie Meinungsäusserung haben und in Entscheidungen, die sie betreffen, einzubeziehen sind.

Wie könnten solche Gefässe und Strukturen aussehen?

Ganz unterschiedlich. Auf Gemeinde­ebene könnten das zum Beispiel regelmässige, dem Alter angepasste Befragungen von Kindern und Jugendlichen zu verschiedenen Themen sein – etwa, ob sie sich auf ihrem Schulweg sicher fühlen. Es wäre aber auch möglich, sie direkt in ein Projekt zu involvieren, zum Beispiel bei der Planung eines Spielplatzes. Der Spielplatz entspricht dann den Bedürfnissen der Kinder und wird tatsächlich bespielt – das bedeutet auch einen effektiveren Einsatz von Ressourcen.

Was ist mit den Jugendparlamenten, von denen auch der Kanton Zürich eines hat?

Jugendparlamente sind eine prima Sache. Ich erlebe die Jugendlichen, die dem Zürcher Jugendparlament angehören, als sehr aktiv und engagiert. Es braucht jedoch bereits eine gewisse Affinität zur politischen Kultur der Schweiz, damit Jugendliche sich vom repräsentativen Parlamentsbetrieb angesprochen fühlen. Oft rührt diese Affinität vom Elternhaus her. Jugendparlamente erreichen deshalb nur einen Teil der Jugendlichen. Wichtig scheint mir, dass es ergänzend auch niederschwellige Angebote gibt, zu denen alle einen leichten Zugang finden. Das ist ein wichtiges Ziel beim Projekt «Euses Züri», das die politische Partizipation von Kindern und Jugendlichen in der Stadt Zürich institutionalisieren will. (vgl. Box unten, Anm. der Red.) Es entstehen Kinder- und Jugendversammlungen in den Quartieren sowie eine jährliche Jugendkonferenz auf städtischer Ebene, aus der Vorstösse zuhanden des Gemeinderats hervorgehen können. Diese Gefässe stehen allen offen.

Finden Vorstösse, die aus einer solchen Jugend­konferenz oder einem Jugendparlament hervorgehen, tatsächlich den Weg in den regulären Politbetrieb oder handelt es sich dabei um Papiertiger?

Das ist tatsächlich von Gremium zu Gremium unterschiedlich. Wichtig ist, dass gesetzlich geregelt ist, unter welchen Bedingungen und über welchen Prozess ein Vorstoss der Jugendlichen in den regulären Politbetrieb einfliesst. Die Hürden dafür dürfen nicht zu hoch sein. Bei «Euses Züri» ist dieser Prozess in der revidierten Gemeinde­ordnung der Stadt Zürich verankert, die Anfang 2022 in Kraft getreten ist. Unterzeichnen 60 Jugendliche einen Vorstoss, gelangt er zur Behandlung an das Präsidium des Gemeinderats.

Porträtbild von Livia Lustenberger, Jugendbeauftragte des Kantons Zürich
Livia Lustenberger: «Partizipation von Kindern und Jugendlichen ist ein Beitrag an die Generationengerechtigkeit.»

Zurück zu den Stimmberechtigten: Folgt die Zürcher Stimmbevölkerung bei der Ab­stimmung vom 15. Mai 2022 dem Entscheid des Kantonsrats, wird das Stimm- und Wahlrechtsalter im Kanton Zürich von 18 auf 16 Jahre herabgesetzt. Sind Jugendliche in diesem Alter kognitiv bereits in der Lage, komplexe politische Vorlagen zu beurteilen und deren Folgen in vollem Umfang abzuschätzen?

Erkenntnisse aus der Entwicklungspsychologie zeigen: Die kognitive Entwicklung verläuft in den ersten Lebensjahren rasant, um sich dann im Alter zwischen 6 und 12 Jahren zu verlang­samen. Zwischen dem 14. Altersjahr und Mitte Zwanzig sind die kognitiven Unterschiede nur noch gering. Ein 16-Jähriger ist also nicht weniger «vernünftig» als eine 18-Jährige. Das deckt sich mit den Erfahrungen, die ich in der praktischen Arbeit mit Jugendlichen gemacht habe. Was wir anerkennen sollten, wenn wir das Wählen und Abstimmen ab 16 Jahren ermöglichen: Jugendliche sind Expertinnen und Experten ihrer Lebenslage und sie beurteilen Sachfragen aus ihrer Perspek­tive – so wie wir Erwachsenen das auch tun.

Stimmberechtigung ist das eine, Stimmbeteiligung das andere. Eine systematische Erhebung der Stimmbeteiligung nach Alter in der Stadt St. Gallen ergab, dass gerade einmal 5,5 Prozent der 18- bis 25-Jährigen an jeder Wahl oder Abstimmung teilnehmen, während es bei den 66- bis 75-Jährigen 43,1 Prozent sind. Es scheint, als wolle das Gros der Jungen gar nicht mitbestimmen. Warum?

Nur weil ich das Recht habe abzustimmen, heisst das nicht automatisch, dass ich es auch wahrnehme. Auch an diese Rolle muss die Gesellschaft Kinder und Jugendliche heranführen. Und auch dies gelingt am besten über Partizipation im unmittelbaren Lebensumfeld. Die Kinder und Jugendlichen erfahren dabei: Meine Meinung wird gehört. Sie hat Gewicht. Ich kann etwas bewirken. Das fördert die Motivation, sich später auch an Wahlen und Abstimmungen zu beteiligen.

Was braucht es darüber hinaus, damit junge Stimmberechtigte regelmässiger an die Urne gehen?

Eine Studie der Universität Zürich ergab, dass junge Stimmberechtigte sehr selektiv abstimmen, abhängig von ihren Interessen und der persönlichen Betroffenheit. Erst später stellt sich eine gewisse Routine ein und es wird regelmässig, quasi unabhängig vom Thema abgestimmt. Zudem spielt politische Bildung eine wichtige Rolle. So stimmten in einem mit der Studie verbundenen Experiment 75 Prozent der Gymnasiastinnen und Gymnasiasten ab, jedoch nur 25 Prozent der Schülerinnen und Schüler von Berufsschulen. Dort besteht also noch Potenzial. Einen weiteren Ansatzpunkt sehe ich bei der Debattierkultur. Diese wird in der Schweiz weniger stark gepflegt als etwa im angelsächsischen Raum, wo das Debattieren als eine Art Sport im Schul- und Hochschulwesen eine lange Tradition hat. Jugendliche lernen dort früh, wie damit umzugehen ist, wenn jemand anderer Meinung ist und wie unterschiedliche Meinungen kontrovers und konstruktiv diskutiert werden können.

Themen wie der Klimawandel oder die Gleichstellung der Geschlechter haben in den letzten Jahren viele junge Menschen mobilisiert. Woran liegt das?

Das erstaunt mich nicht, handelt es sich doch um Themen, bei denen die persönliche Betroffenheit für junge Menschen leicht erkennbar ist. Bei anderen Themen fällt es jungen Menschen schwerer, einen Bezug zu ihrer eigenen Situation herzustellen. Hier schafft easyvote des Dachverbands Schweizer Jugendparlamente DSJ Abhilfe: Online und in gedruckter Form erklärt easyvote kompakt und in jugendgerechter Sprache, worum es bei einer Abstimmungsvorlage geht. Ich finde insbesondere die Umsetzung der Videos ansprechend und nutze sie selbst manchmal in Ergänzung zu den offiziellen Unterlagen.

Es ist vermehrt von sich zuspitzenden Generationenkonflikten zu hören und zu lesen. Gerne werden etwa die Klimajugend und die Generation der Babyboomer gegeneinander ausgespielt. Wie steht es um den Generationenfrieden in der Schweiz?

Ich würde nicht von einem Konflikt sprechen. Verschiedene Generationen haben unterschiedliche Interessen und Sichtweisen, das ist normal. Schliesslich geht es auch um eine natür­liche Abgrenzung der Jugend gegenüber älteren Generationen. Grundsätzlich erlebe ich Jugend­liche als sehr solidarisch gegenüber älteren Mitmenschen. Nehmen wir als Beispiel nochmals die Corona-Pandemie: In der ersten Welle, als das oberste Ziel war, Risikogruppen zu schützen, haben viele Junge für ältere Menschen eingekauft oder Botengänge erledigt.

Was ist nötig, damit es bei diesem einvernehmlichen Miteinander bleibt?

Indem wir als Gesellschaft die Partizipation von Kindern und Jugendlichen ermöglichen, leisten wir einen Beitrag an den Generationenfrieden und an die Generationengerechtigkeit. Gerade mit Blick auf den demografischen Wandel ist Partizipation ein gutes Mittel, ein allzu grosses Ungleichgewicht zwischen den Generationen zu verhindern. Ich sehe aber noch weitere Vorteile, wenn junge Menschen schon früh mitreden dürfen: Es fördert das Demokratieverständnis, integriert sie in die Gesellschaft und stärkt ihre Identifikation mit ihrem Lebensumfeld. Ich möchte deshalb dazu motivieren, Kinder und Jugendliche stärker zu involvieren. Es ist nicht besonders schwierig und es macht die Sache auch nicht kompliziert, sondern es bringt einen Mehrwert. Ich wünsche mir, dass die Gesellschaft bereit ist, diesen Mehrwert zu sehen.
 

Zur Person

Livia Lustenberger, die Geschäftsführerin von «okaj zürich – Kantonale Kinder- und Jugendförderung», dem Dachverband der Offenen, verbandlichen und kirchlichen Kinder- und Jugendarbeit im Kanton Zürich, ist zugleich Jugend­beauftragte des Kantons Zürich. Ihr Studium in Sozialer Arbeit an der Hochschule Luzern schloss Livia Lustenberger (38) in der Vertiefungsrichtung Soziokultur ab. An der gleichen Hochschule absolvierte sie den MAS Management im Sozial- und Gesundheitsbereich.

Euses Züri

Mit dem Projekt «Euses Züri – Kinder- und Jugendliche reden mit!» will die Stadt Zürich die Teilhabe der jungen Stadtbevölkerung an politischen und gesellschaftlichen Fragen erhöhen. Auf Ebene der Quartiere schaffen lokale Akteurinnen und Akteure gemeinsam mit Kindern und Jugendlichen niederschwellige Kinder- und Jugendversammlungen. Auf städtischer Ebene findet jährlich eine Jugendkonferenz statt, die Vorstösse in den Gemeinderat überweisen kann.

Für die Anschubfinanzierung von «Euses Züri» sprach die Stadt Zürich einen Teil der Jubiläumsdividende, die die Zürcher Kantonalbank anlässlich ihres 150-Jahr-Jubiläums im Jahr 2020 an den Kanton Zürich und seine Gemeinden ausschüttete.

Die Umsetzung des Projekts durch «okaj zürich – Kantonale Kinder- und Jugendförderung» und den Dachverband Schweizer Jugendparlamente DSJ soll bis 2025 abgeschlossen sein. Weitere Informationen unter: okaj.ch/euses-zueri

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