Zum Hauptinhalt springen

Le déficit, c'est moi

In Frankreich droht ein erneuter Regierungswechsel. Unabhängig vom Ausgang des Misstrauensvotums werden sich die Haushaltsfinanzen weiter eintrüben. Dass Frankreich eine neue Schuldenkrise in Europa auslöst, ist hingegen äusserst unwahrscheinlich. Erfahren Sie mehr dazu im Beitrag von Senior Economist, Sascha Jucker.

Text: Sascha Jucker

Frankreich: Neue Regierung, alte Probleme (Bild: Getty Images)

Neue Regierung, alte Probleme

Aufgrund der harzigen Diskussionen um das öffentliche Haushaltsbudget Frankreichs hat der Premierminister François Bayrou dem Parlament Ende August die Vertrauensfrage gestellt. Dieses soll am 8. September darüber abstimmen, ob er im Amt bleibt oder ob Präsident Emmanuel Macron zum wiederholten Mal einen neuen Regierungschef stellen muss. Auch eine Auflösung des Parlaments mit darauffolgenden Neuwahlen steht als Option im Raum. Wir verzichten auf den folgenden Seiten auf eine detaillierte Szenario-Analyse der anstehenden Politentscheide, weil sich unserer Meinung nach die finanz­politische Lage Frankreichs unabhängig vom Ausgang des Misstrauens­votums oder allfälliger Neuwahlen kurzfristig kaum verbessern wird. Im Folgenden beleuchten wir die französischen Staatsfinanzen im europäischen Kontext.

Verschuldung steigt in Frankreich am stärksten an

Es ist mittlerweile kein Geheimnis mehr, dass die Haushaltspolitik Frankreichs unter den grossen Mitgliedern der Eurozone am stärksten in Schieflage ist. Zwar liegt die Schuldenquote in Italien und Griechenland weiterhin deutlich über derjenigen der Tricolore (112 Prozent). Gemäss dem Internationalen Währungsfonds dürfte die Schuldenlast in Frankreich in den nächsten fünf Jahren aber am deutlichsten zunehmen (vgl. Grafik).

Öffentliche Bruttoschulden in % des BIP

 

Quelle: Zürcher Kantonalbank, IWF

Frankreich hat ein Ausgabenproblem, kein Einnahmeproblem

Eine Detailbetrachtung des Staatshaushalts zeigt auf, woher das Ungleich­gewicht im öffentlichen Haushalt herrührt. Für Frankreich gilt dabei das gleiche Fazit wie für die meisten anderen europäischen Volks­wirtschaften: Die öffentliche Hand hat in erster Linie nicht ein Einnahmen-, sondern ein Ausgabenproblem. Gemäss dem IWF belaufen sich die staatlichen Ausgaben auf mehr als die Hälfte der jährlichen Wirtschafts­leistung. Das ist selbst innerhalb der Eurozone ein Spitzenwert. Nur in Finnland liegen die Einnahmen noch höher. Entsprechend schwer wiegt auch die Last von Steuern und Sozial­beiträgen für den Privatsektor bei unserem westlichen Nachbarn. Gemäss der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) bewegte sich die Steuerquote in Frankreich in den letzten Jahren bei 45 Prozent, was unter den 38 Mitgliedstaaten der höchste Wert ist. Einnahmeseitig ist der Spielraum für die Regierung dadurch beschränkt. Auch deshalb fokussierte sich Premierminister Bayrou im Haushalts­entwurf in erster Linie auf Sparmass­nahmen anstelle von markanten Steuererhöhungen (ein weiterer, nicht unwesentlicher Grund ist, dass Emmanuel Macron 2023 ein Steuersenkungspaket verabschiedet hatte). Aufgrund des grosszügigen Gesundheits-, Sozial-, und Vorsorge­systems in Frankreich übertreffen die jährlichen Staatsausgaben die Einnahmen bei Weitem. Durch den demografischen Wandel werden insbesondere die staatlichen Renten­zahlungen und die Gesundheits­kosten künftig weiter zunehmen. Weil die 2023 beschlossene Rentenreform im aktuellen Parlament mehrheitlich auf Ablehnung stösst und deshalb neu diskutiert werden soll, wird sich die Finanzierungs­problematik weiter verschärfen. 

Haushaltsplanung wird zur Makulatur

Das Resultat des unausgeglichenen Staats­haushalts ist ein jährliches Defizit von 4-6 Prozent. Gemäss den Fiskalregeln der Europäischen Union liegt der maximal zulässige Fehlbetrag bei 3 Prozent. Deshalb hatte die EU bei Frankreich, Italien sowie eine handvoll anderer Länder 2024 ein Defizitverfahren eingeleitet. Dabei soll sich das Haushaltsdefizit sukzessive zurückbilden und die Schuldenquote stabilisieren. Bereits damals meldeten sich gewichtige Stimmen aus dem eigenen Land zu Wort. Der Chef der französischen Notenbank Francois de Villeroy de Gaulhau forderte bereits im Sommer 2024, dass die Regierung die Fiskalpolitik unabhängig von der politischen Situation zur höchsten Priorität einstufen muss, um von der EU und den Finanzmärkten wieder Glaub­würdigkeit zu erlangen. Dabei hilft nicht, dass die Budgetprognosen des Finanz­ministeriums und dadurch auch diejenigen des IWF in der Vergangenheit viel zu optimistisch waren und das Defizit jeweils deutlich höher ausfiel als geplant. Die Budget­planung sowie deren Prognosen sind damit zur Makulatur geworden. Dass Frankreich sich in den nächsten Jahren an die EU-Regeln einhalten wird, ist vor dem Hintergrund der politischen Machtverteilung sehr unwahrscheinlich. Das linke Lager schliesst die geplanten Ausgaben­kürzungen kategorisch aus und das rechte Lager misst der EU und deren Fiskalregeln generell einen geringen Stellenwert bei. Folglich dürften auch die jüngsten Prognosen zu optimistisch ausfallen.

Löst Frankreich die nächste Schuldenkrise aus?

Das strukturelle Defizit sowie die schwindenden Aussichten auf eine Trendwende haben ihre Spuren an den Finanzmärkten hinterlassen. Angesichts der steigenden Rendite am französischen Staatsanleihen­markt stellt sich die Frage, ob die Haushaltspolitik der zweitgrössten Volkswirtschaft des Währungsraums eine neue Schuldenkrise in Europa auslösen könnte. Während dieses Szenario zwar nicht ausgeschlossen werden kann, ist es aus aktueller Sicht sehr unwahrscheinlich. Dies widerspiegelt sich auch in der differenzierten Haltung der Marktteilnehmer, die die Haushaltspolitik in Frankreich in erster Linie als nationales Problem einstufen (vgl. Grafik). 

 

Renditespread gegenüber 10-jährigen, deutschen Staatsanleihen

Quelle: Zürcher Kantonalbank, LSEG Datastream

1) Frankreich ist nicht das neue Griechenland

Die Gründe für diese Einschätzung sind vielfältig. So können Frankreichs aktuelle Probleme nicht eins zu einsmit denjenigen von Griechenland während bzw. vor der Eurokrise verglichen werden. Zwar ist die Staatsver­schuldung in Frankreich aktuell ähnlich hoch wie in Griechenland im Jahr 2008. Die jährlichen Defizite in Griechenland waren aber bereits vor der Finanzkrise und trotz eines sehr hohen Wirtschafts­wachstums ausgeprägter als in Frankreich heute, weil aufgrund der grossen Schattenwirtschaft dem griechischen Staat höhere Steuereinnahmen fehlten. Während der Finanz- und Eurokrise hatte sich das jährliche Haushalts­defizit Griechenlands nochmals massiv erhöht. Weil in Folge des verlorenen Anleger­vertrauens die Renditen für griechische Staatsanleihen in die Höhe schossen und der Staat vom IWF gerettet werden musste, war die Regierung gezwungen, in den Folgejahren eine rigorose Austeritätspolitik zu verfolgen. In Frankreich präsentiert sich die Lage weniger dramatisch. Auch deshalb weil der Privatsektor - anders als in Griechenland damals - nicht über seine Verhältnisse lebt. So war die französische Leistungsbilanz im vergangenen Jahr in etwa ausgeglichen, während sie in Griechenland im Jahr 2007 bei -15 Prozent des BIP lag. 

Somit beschränkt sich die französische Schulden­problematik auf den öffentlichen Haushalt. Unter Annahme eines Wirtschafts­wachstums von rund 1 Prozent, einer Inflationsrate von 2 Prozent und einer durchschnittlichen Rendite von 3.5 Prozent auf französische Staatsanleihen müsste die Regierung das aktuelle Primärdefizit von 4 Prozent (Haushalts­defizit abzüglich Zinskosten) mittelfristig in einen Überschuss von 0.5 Prozent umwandeln, um die Schuldenquote zu stabilisieren. Das wäre zwar ein politischer Kraftakt und ist aktuell unwahrscheinlich, aber wirtschaftlich tragbar. Je länger Frankreich aber grosse Haushalts­defizite ausweist, desto grösser werdender Schuldenberg, die Zinslast und damit der benötigte Primär­überschuss zur Schulden­stabilisierung. Je früher gespart wird, desto besser.

2) Die Peripherie ist stabiler als 2010

Dass eine breite Schuldenkrise in Europa unwahrscheinlich ist, liegt aber in erster Linie an den wirtschaftlichen Rahmen­bedingungen ausserhalb Frankreichs. So sind die Privathaushalte in der südlichen Peripherie heute deutlich weniger stark verschuldet als damals und damit weniger anfällig für Zins­schwankungen. Unter anderem auch deswegen haben sie die massiven Leitzins­erhöhungen von 2022 bis 2023 gut überstanden. Auch scheinen die südeuropäischen Regierungen besser mit den verfügbaren Mitteln zu haushalten als die Franzosen. Trotz der Mehrausgaben in Folge der Rezession während der Pandemie ist die öffentliche Verschuldung in Griechenland und Portugal tendenziell gesunken und in Spanien dürfte sie immerhin nicht weiter steigen. Einzig in Italien überstiegen die Ausgaben die Einnahmen weiterhin deutlich, weil die Zinskosten einen grossen Teil des jährlichen Budgets in Anspruch nehmen. Unter Ausschluss dieser Altlasten wird Italien aber bald wieder einen strukturellen Haushalts­überschuss bzw. einen positiven Primärsaldo ausweisen, wie es bereits in den zwanzig Jahren vor der Pandemie der Fall war. Italien bleibt neben Frankreich aber weiterhin der grösste Wackelkandidat innerhalb der Eurozone. Und was ist mit Deutschland? Angesichts des angekündigten Infrastruktur- und Rüstungs­pakets werden die Staatsausgaben stärker zulegen als in der Vergangenheit. Allerdings gibt es diverse Fragezeichen bei der Umsetzbarkeit der anstehende Infrastrukturprojekte. Darüber hinaus werden sich diese Investitionen in einem höheren Wirtschafts­wachstum widerspiegeln, womit die Schuldenlast (in % des BIP) nur graduell zulegen wird. Dass die deutschen Staatsanleihen künftig nicht mehr als Anker für das umliegende Europa dienen werden, ist deshalb unwahrscheinlich. Neben den wirtschaftlichen Rahmen­bedingungen dürften auch die zunehmende Regulierung des europäischen Bankensektors seit der Finanzkrise dazu beitragen, dass die Ansteckungsgefahr über den Kreditmarkt heute geringer ist. 

3) Die EZB ist besser vorbereitet

Im Notfall kann zudem von den europäischen Institutionen mit Unterstützung gerechnet werden. Nachdem bereits 2012 der Europäische Stabilitätsmechanismus (ESM) zur Rettung von überschuldeten Mitgliedstaaten geschaffen wurde, hat die Europäische Zentralbank (EZB) im Jahr 2022 mit dem Transmission Protection Instrument eine geldpolitische Fazilität ins Leben gerufen, die «ungeordneten Marktentwicklungen entgegenwirken soll, sofern diese die geldpolitische Wirkung gefährden». Konkret heisst das, dass die EZB im Falle von Panikverkäufen am europäischen Obligationen­markt Staatsanleihen ausserhalb Frankreichs kaufen wird, sofern deren Rendite­aufschläge fundamental nicht gerechtfertigt sind.

Fazit: Frankreich steht mit seinen Problemen alleine da

Die französische Politik wird ihr hohes strukturelles Haushalts­defizit bestenfalls graduell abbauen können, sofern sich dafür politische Mehrheiten bilden lassen. Dies wird wohl erst dann der Fall sein, wenn der Leidensdruck weiter zunimmt, wobei dieser von der EU und/ oder dem Anleihen­markt ausgehen wird. Bis dahin werden sich Spar­massnahmen auf den kleinsten gemeinsamen politischen Nenner der drei Regierungslager beschränken. Deren fiskalpolitische Schnittmenge ist so klein, dass die Schuldenquote auf hohem Niveau weiter zulegen wird. Die meisten anderen Europäischen Volkswirtschaften und deren öffentliche Finanzen stehen deutlich besser da und der Bankensektor wie auch die EZB sind besser gerüstet für turbulente Zeiten als vor 15 Jahren. Die Wahrscheinlichkeit für eine erneute Schuldenkrise ist damit gering. 

Kategorien

Anlegen