Weiter- statt neubauen

Weiterbauen – d.h. Wohnungsneubau im Bestand – hat im Vergleich zum Ersatzneubau viele Vorteile und erfolgt häufiger als gedacht. Allein auf den Wohnbau im Bestand zu setzen, würde jedoch nicht reichen, um der zunehmenden Knappheit am Mietwohnungsmarkt zu begegnen.

Text: Ursina Kubli und Ingrid Rappl, Analytics Immobilien

Gelungene Aufstockung an der Agnesstrasse in Zürich (Bild: Hannes Henz)

Die Wohnraumnachfrage schnellt zurzeit in die Höhe. Schätzungen für das Wachstum der ständigen Wohnbevölkerung liegen im laufenden Jahr hierzulande bei 150’000 Personen – ein historischer Rekord. Kurzzeitig starkes Bevölkerungswachstum ist in der Schweiz grundsätzlich nicht neu. Neu ist hingegen die mangelnde Reaktion der Bauindustrie auf die zunehmende Nachfrage.

Die raumplanerischen Rahmenbedingungen für den Neubau sind in der letzten Dekade anspruchsvoller geworden. Stiess man früher platzmässig an die Grenzen, wurde am Dorf- oder Stadtrand angesetzt. War das Land nicht bereits Bauland, wurde es als solches eingezont, Gebiete wurden erschlossen und die zusätzlich notwendige Infrastruktur ausgebaut. Dieses Vorgehen bedeutete für die Bevölkerung einen geringen Eingriff in ihren Alltag, zudem profitierten viele finanziell von der Einzonung bisherigen Landwirtschaftslands.

Diese Möglichkeit, Raum für das Bevölkerungswachstum zu schaffen, hatte jedoch den Preis, dass immer mehr Freiflächen verschwanden. Mit der Revision der Raumplanung sollte genau das verhindert werden. Das Wachstum soll in den Zentren erfolgen und stellt die städtischen Anwohner vor grosse Veränderungen. Der Widerstand gegen die zunehmende Verdichtung ist gross und kommt in den zahlreichen Einsprachen und Rekursen zum Ausdruck. Umso wichtiger ist die Frage, wie neue Bauvorhaben den Rückhalt in der Bevölkerung gewinnen können. Denn: Gelingt es dem Bau über längere Zeit nicht, mit dem Bevölkerungswachstum Schritt zu halten, läuft die Schweiz in soziale und ökonomische Probleme.

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Muss es immer der Ersatzneubau sein?

Je seltener Baulücken und unbebautes Bauland in der Stadt vorhanden sind, desto häufiger werden alte Gebäude abgerissen und mit neuen Wohngebäuden ersetzt, sogenannten Ersatzneubauten. Dies ist häufig der wirtschaftlichste Weg, Wohnraum zu schaffen, und hat den Vorteil, das gesamte Potenzial der Fläche realisieren zu können. Die Wohnungsgrundrisse passen zu den heutigen Ansprüchen, während die Neubauten auch bezüglich diverser Nachhaltigkeitsaspekte besser abschneiden. Eine nicht-fossile Heizung ist eine Selbstverständlichkeit. Der Ersatzneubau hat aber auch seine Schattenseiten. Der Rückbau von Gebäuden und Strassen generiert jährlich 17 Millionen Tonnen Abfall, rund ein Fünftel der in der Schweiz produzierten Abfallmenge. Graue Energie belastet folglich die Gesamtrechnung eines Ersatzneubaus bezüglich Nachhaltigkeit. Darüber hinaus hat ein Ersatzneubau weitreichende Konsequenzen für die bestehenden, oftmals langjährigen Mieter, die sich die Neubauwohnung häufig nicht mehr leisten können. Bauen im Bestand kennt diese Schattenseiten normalerweise nicht.

So geht Weiterbauen

Quelle: Zürcher Kantonalbank

Entsteht bei einem bestehenden Wohngebäude die neue Wohnung durch einen Anbau, eine Aufstockung oder die Ausnutzung sonstiger Potenziale, können Mieter in der Regel in ihren bestehenden Mietverhältnissen bleiben. Es muss also nicht immer der Ersatzneubau sein. Wie viele Wohnungen entstehen im Kanton Zürich jährlich durch Weiterbauen, also Wohnungsneubau im Bestand? Welche Akteure verfolgen diese Strategie, und wie reagieren sie auf regulatorische Erleichterungen?

Um diese Fragen zu beantworten, haben wir für den ganzen Kanton Zürich den Wohnungsneubau in älteren Mehrfamilienhäusern in den fünf Jahren von 2018 bis 2022 untersucht. Findet der Wohnungsneubau auf einem bisher unbewohnten Stockwerk (z.B. im bisherigen Estrich) statt oder wird das Gebäude um eine neue zusätzliche Etage ergänzt, sprechen wir von Aufstockung. Wir analysierten: Hat die grosse Revision der Bau- und Zonenordnung (BZO) in der Stadt Zürich diese befeuert? Zudem haben wir ausgewertet, wie viele Wohngebäude in diesem Zeitraum abgerissen wurden, wo also der Entscheid wahrscheinlich auf einen Ersatzneubau fiel.

Nachkriegsbauten werden abgerissen

Insgesamt sind im Kanton Zürich durch Bauen im Bestand jährlich etwas mehr als 1’400 Wohnungen entstanden, 14 Prozent des gesamten Wohnungsneubaus. Weiterbauen spielt damit eine untergeordnete, aber dennoch nicht zu vernachlässigende Rolle im Wohnungsneubau. Als Gebäudestrategie ist Weiterbauen mit 2,3 Prozent der Wohngebäude sogar häufiger als der Abbruch mit 1,6 Prozent. Jedes hundertste Gebäude wurde in diesen fünf Jahren im Kanton Zürich aufgestockt. Die ältesten Liegenschaften werden besonders häufig weitergebaut. Schliesslich sind Immobilien aus dem Anfang des 20. Jahrhunderts nicht nur grundsolide gebaut, sondern überzeugen auch mit hohen Räumen, Deckenstuckaturen und schönen Treppenhäusern. Sie sind daher noch heute höchst begehrt. Beim Weiterbauen kann diese Baukultur erhalten bleiben. Gewisse Gebäude stehen unter Denkmalschutz, sodass der Abbruch ohnehin nicht in Frage kommt. Bei Mehrfamilienhäusern der Nachkriegszeit mit einem Baujahr zwischen 1946 und 1960 ist der Abbruch jedoch häufig, Weiterbauen kommt bei diesen Jahrgängen nur selten vor.

Mit Blick auf die unterschiedlichen Akteure auf den Bauplätzen sticht eine Gruppe bei den Weiterbauten durch Zurückhaltung hervor. Die Genossenschaften haben diese Strategie in den letzten Jahren kaum verfolgt. Stattdessen wurden ihre Wohngebäude häufig abgerissen und durch moderne Ersatzneubauten ersetzt. Dies dürfte hauptsächlich mit dem Alter und der Bauqualität ihrer Gebäude zusammenhängen. Die sehr kleinen Grundrisse älterer Genossenschaftswohnungen entsprechen nicht mehr den heutigen Ansprüchen. Genossenschaften erfuhren jeweils ihr grösstes Wachstum in Zeiten von Wirtschafts- und Wohnungskrisen und gingen daher besonders haushälterisch mit dem knappen Geld um. In Genossenschaftswohnungen findet man also keine Stuckaturen an den Decken.

Genossenschaften bauen kaum im Bestand

Anteil der Gebäude mit Weiterbauen bzw. Abbruch nach Eigentümerkategorie, Kanton Zürich 2018 bis 2022
 

Quellen: GWR, Zürcher Kantonalbank

Bei Stockwerkeigentum ist es ebenfalls schwer vorstellbar, dass sich seine Eigentümer zu einer Aufstockung oder sonstigen Ausnutzung des Potenzials durchringen können. Schliesslich würden durch zusätzlichen Wohnraum die Wertquoten neu bestimmt, weshalb diese baulichen Massnahmen die Zustimmung aller Eigentümer erfordern. Bei einer Aufstockung ist insbesondere beim obersten Eigentümer mit Widerstand zu rechnen, da dieser den mit dem höchsten Stockwerk verbundenen Preisaufschlag nicht verlieren will. Erstaunlicherweise zeigen unsere Analysen mehrere Beispiele im heutigen Stockwerkeigentum, in denen Bauen im Bestand erfolgte. Die Vermutung liegt nahe, dass bei vielen Objekten die Umwandlung zu Stockwerkeigentum erst nach dem Umbau stattfand. Kleinere Gesellschaften hielten nach renovations- oder abbruchbedürftigen Mehrfamilienhäusern Ausschau, um diese nach einer Totalsanierung im Stockwerkeigentum zu verkaufen.

BZO-Revision 2016 – kein neuer Wind für Aufstockungen

Das Thema Aufstockung wurde jüngst auf politischer Ebene in der Stadt Zürich als mögliche Lösung zur Bewältigung der Wohnungsknappheit diskutiert. Der politische Vorstoss, in allen Stadtzürcher Wohngebieten künftig ein Stockwerk höher bauen zu dürfen, wurde im Zürcher Gemeinderat aber abgelehnt. Wie viele Aufstockungen bei der Umsetzung dieser Idee realisiert worden wären, hängt davon ab, wie sensibel sie auf regulatorische Erleichterungen reagieren.

Grafik: Abbruch oder Weiterbauen?

Anteil der Gebäudestrategien nach Baujahr in %, Kt. Zürich 2018–2022

Abbruch oder Weiterbauen
Quellen: GWR, Zürcher Kantonalbank

Die Entwicklung der Aufstockungen vor und nach der grossen Revision der Bau- und Zonenordnung (BZO) in der Stadt Zürich erlaubt eine Einordnung. Die im November 2018 in Kraft getretene Revision erlaubt ein zusätzliches Vollgeschoss, dafür zählt das teilweise oder ganz in den Boden versenkte «Zürcher Untergeschoss» neu ebenfalls voll zur Ausnützung. Diese Anpassung begünstigt den Bau in einem höheren Stockwerk. Man darf nicht vergessen, dass der oberste Stock in älteren Gebäuden zum Bauzeitpunkt nicht als Wohnraum gedacht war. Stattdessen wurde hier die Wäsche getrocknet, oder er stand Bediensteten zur Verfügung. Die starken Dachschrägen und die gedrängten Räume ermöglichten keinen qualitätsvollen Wohnungsausbau.

Nach der Revision kann das Dach weniger steil gebaut werden, was die Qualität der aufgestockten Wohnungen steigert. Entsprechend ist zu erwarten, dass die Aufstockungstätigkeit durch die Revision Aufwind bekommen hat. Das war aber nicht der Fall. In den Jahren 2013 bis 2017 lag die Aufstockungstätigkeit in der Stadt Zürich bei 1,2 Prozent der Wohngebäude und verharrte auch 2018 bis 2022 auf diesem tiefen Niveau. Obschon es in der Stadt Zürich ein beachtliches Aufstockungspotenzial* von insgesamt 8’589 Wohnungen gibt, bleibt die Aktivität gering. Das deutet auf eine geringe Sensibilität von Aufstockungen auf raumplanerische Massnahmen.

Die geringe Aktivität hat sowohl baustatische als auch wirtschaftliche Gründe. Aufstockungen sind mit einem grossen planerischen wie auch finanziellen Aufwand verbunden und erfolgen häufig erst im Zuge einer Gesamtsanierung. Mit der alleinigen rechtlichen Möglichkeit, einen Stock mehr zu bauen, ist es folglich nicht getan. Allein auf den Wohnbau im Bestand zu setzen, würde nicht reichen, um der zunehmenden Knappheit am Mietwohnungsmarkt zu begegnen.

* Die Berechnung des Aufstockungspotenzials bezieht sich auf die Masterarbeit von Diego Trutmann – Innenentwicklung in der Stadt Zürich – und wurde vor der Zürcher BZO-Revision in Zusammenarbeit mit dem Amt für Städtebau entwickelt.