«Unconscious Bias» in der Rekrutierung

Im Laufe des Lebens speichern wir alle bewusst oder unbewusst wahrgenommene Informationen und Erlebnisse. Häufig kann das Gespeicherte erfolgreich genutzt werden: Wir fassen nicht ins Feuer; wir meiden Nahrungsmittel, die uns nicht schmecken. Es kann jedoch auch die eine oder andere Wahrnehmungsverzerrung entstehen. In der Rekrutierung können diese unbewussten Vorurteile zu verpassten Chancen bei der Gewinnung von neuen Talenten führen. Lianna Müller, Rekrutierungsexpertin bei der Zürcher Kantonalbank, erklärt, was es mit «Unconscious Bias» in der Rekrutierung auf sich hat.

Text: Mirjam Arn / Bild: Simon Baumann

Was ist unter «Unconscious Bias» zu verstehen?

Es handelt sich um implizite Voreingenommenheit und unbewusste Vorurteile, die gegenüber anderen Personen auftreten. Es sind Vereinfachungen, welche unser Gehirn zum Beispiel aufgrund von eigenen Erfahrungen, der Erziehung oder kulturellen Prägungen erzeugt. Hierbei werden Annahmen aufgrund von Geschlecht, Herkunft, Alter, sexueller Orientierung, Beeinträchtigung oder anderen Merkmalen getroffen. Diese Vorurteile können dazu führen, dass Entscheidungen auf Annahmen und Stereotypen basieren anstatt auf objektiven Fakten.

Welchen Einfluss können unbewusste Vorurteile auf die Rekrutierung haben?

Sie schränken den potenziellen Bewerbenden-Pool ein und können zu unfairen Anstellungsentscheidungen führen. Nämlich dann, wenn Recruiter oder andere Entscheidungsträgerinnen und Entscheidungsträger Personen aus spezifischen Gruppen aufgrund von Annahmen bevorzugen oder benachteiligen, ohne sich dessen bewusst zu sein.

Welche Beispiele von «Unconscious Bias» gibt es in der Rekrutierung?

Insgesamt kennen wir über 180 verschiedene unbewusste Vorurteile – einige der häufigsten im Recruiting sind:

  • Ähnlichkeitseffekt / Mini-Me-Effekt: Nach dem Sprichwort «Gleich und gleich gesellt sich gern» – Spielen zum Beispiel viele Personen in einem Team gerne Fussball, können Bewerbende, die diese Freizeitbeschäftigung ebenfalls gerne pflegen, einen unverhältnismässigen Sympathiebonus erhalten.
  • Der Halo-Effekt / Überstrahleffekt: Eine Bewerberin oder ein Bewerber hat beispielsweise in einer renommierten Bildungseinrichtung die Ausbildung mit Bestnoten abgeschlossen. Dieser Leistungsnachweis kann negative Auffälligkeiten in anderen wichtigen Bereichen wie der Sozial- und Persönlichkeitskompetenz überstrahlen.
  • Horns-Effekt: Die andere Seite des Halo-Effekts ist der Horn-Effekt. Eine einzige negative Eigenschaft oder schlechte Leistung einer Person, führt dazu, dass alle positiven Eigenschaften, Qualitäten und Talente übersehen oder herabgesetzt werden. Zum Beispiel, wenn ein Lebenslauf eine für den Recruiter negativ assoziierte Arbeitgeberin enthält. Oder wenn beispielsweise eine Bewerberin oder ein Bewerber unpünktlich zu einem Bewerbungsgespräch erscheint und die Recruiterin automatisch annimmt, dass der Bewerber oder die Bewerberin ungeeignet oder unzuverlässig ist – obwohl die Unpünktlichkeit viele Gründe haben kann, die nichts mit den Fähigkeiten oder der Eignung der Bewerberin oder des Bewerbers für die Stelle zu tun haben.
  • Die Stereotypisierung: Gerne bediene ich mich da der Stereotypen, die mich selbst betreffen: Ich bin weiblich und habe asiatische Wurzeln. In einem stereotypischen Denkmuster wäre ich in den Kompetenzen Multitasking und Mathematikverständnis überdurchschnittlich qualifiziert. Diese Annahme wäre in meinem Falle sehr weit von den Tatsachen entfernt. Trotzdem könnte es bei einer Stereotypisierung vorkommen, dass ich bei Vakanzen, in denen diese Fähigkeiten als wichtig erachtet werden, gar nicht darauf geprüft werde, weil aufgrund meines Geschlechts und kulturellen Backgrounds angenommen wird, ich könne das ja.

Wie geht man als Recruiterin gegen solche unbewussten Vorurteile vor?

In der Schweiz haben wir die Angewohnheit, Lebensläufe mit Foto, Geburtsdatum, Nationalität, Zivilstand etc. zu formulieren. Ich habe mir angewöhnt, diese Informationen bei der Selektion zu überspringen. Wenn Bildungsweg und die erforderliche Erfahrung auf das Profil passen, ist für mich nur die vorhandene oder mögliche Arbeitsbewilligung relevant, um zu prüfen, ob wir bei der Person rechtlich einen Arbeitsvertrag ausstellen dürfen. Um bei der Auswahl objektiv zu sein, hilft es auch, messbare Kriterien und Anforderungen zu definieren.

Nach einem Interview, unserer Beurteilung, wie gut die Person zu unseren Werten und der Unternehmenskultur passt sowie dem Austausch mit den internen Beteiligten im Rekrutierungsprozess, hinterfrage ich unsere Einschätzungen. Auf welchen Fakten und Gesprächsinhalten basieren diese?

Wie «Unconscious Bias» im Alltag reduzieren?

Unconscious Biases vereinfachen den Alltag und verringern Komplexität, können aber auch dazu führen, dass wir Menschen voreingenommen begegnen und Fehlentscheidungen treffen. Fünf Beispiele, wie Sie im Alltag unbewusste Vorurteile reduzieren können:

  1. Blinde Flecken sichtbar machen: Ungefähr 95 Prozent unserer Handlungen erfolgen instinktiv und unbewusst. Somit ist jede und jeder von uns unbewusst voreingenommen. Ein erster Schritt ist es, uns die kognitiven Verzerrungen und deren Einflüsse bewusst zu machen. Informieren Sie sich über die verschiedenen Arten von unbewussten Vorurteilen und Stereotypen, um ein besseres Verständnis zu entwickeln. Seien Sie aufgeschlossen gegenüber neuen Erfahrungen und Menschen.
  2. Reflektieren: Setzen Sie sich mit Ihren eigenen Vorurteilen auseinander und reflektieren Sie, wo diese herkommen. Fragen Sie sich, ob und inwiefern diese Ihre Entscheidungen beeinflussen. Fordern Sie Feedback von Freunden oder Kolleginnen und Kollegen, um eventuelle unbewusste Vorurteile zu identifizieren.
  3. «Nudging»: Wenn wir wissen, wo unsere eigenen blinden Flecken sind, können wir bewusst unser eigenes Handeln beeinflussen und bestehende Denkmuster durchbrechen. «Nudging» steht für kleine «Anstupser», die uns subtil dabei helfen, unsere Verhaltensweisen zu ändern – zum Beispiel indem Sie visuelle Hilfsmittel wie To-Do-Listen, Kalender und Erinnerungen verwenden, um Aufgaben und Zeitpläne effizient zu priorisieren.
  4. Vermeiden: Unbewusste Vorurteile können in stressigen, zeitkritischen oder emotional aufgeladenen Situationen verstärkt werden. Unter Multitasking oder kognitiver Belastung neigt das Gehirn dazu, auf automatische Denkmuster und Stereotypen zurückzugreifen. Bewusste Anstrengungen, Achtsamkeit und Methoden zur Stressbewältigung können helfen, die Auswirkungen von unbewussten Vorurteilen in solchen Situationen zu reduzieren.
  5. Lernen: Unbewusste Denkmuster sind oft tief verwurzelt. Es erfordert Zeit und Geduld – und kontinuierliches Bemühen, um bewusster und achtsamer zu sein.

Welche Mechanismen hat die Zürcher Kantonalbank implementiert, um Vorurteile beseitigen zu können?

Recruiter werden während der Einführungszeit bei der Zürcher Kantonalbank nochmals auf diese Thematik sensibilisiert. Vor jedem Rekrutierungsstart prüfen wir, welche internen Personen fachlich für die Interviewführungen sinnvoll sind, und stellen ein möglichst diverses Rekrutierungsteam zusammen.

Weshalb ist es so wichtig, die Thematik im Auge zu behalten?

Vorurteile treten überall auf – selbst bei Nutzung von künstlicher Intelligenz. Auch diese ist nicht zwingend objektiv, denn sie hat unter Umständen den Bias ihrer Entwicklerinnen oder Entwickler sozusagen eingebaut. Viele Vorurteile haben wir im Alltag unfreiwillig erlernt: Sterne sind nicht fünfeckig, obwohl wir sie gerne so zeichnen, und Hebammen nicht immer weiblich. Diese Liste könnte ich unendlich fortführen – wir finden Unconscious Bias in fast jeder Lebenssituation.

Studien haben belegt, dass divers aufgestellte Teams erfolgreicher sind als sehr homogene Teams. Um für uns die am besten passenden Talente zu finden und intern zu fördern, haben wir grosses Interesse, unsere Einstellungsentscheide möglichst faktenbasiert, unvoreingenommen und fair zu treffen. So sichern wir den Erfolg der Zürcher Kantonalbank von morgen.