«Wir wollten eine bessere Basis für unsere Beratungen»

Die Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW) hat im Auftrag der Zürcher Kantonalbank Daten zu Erbschaften und Schenkungen in der Schweiz erhoben. Eine Erkenntnis: Den vorhandenen Spielraum beim Verteilen des Erbes nutzen längst nicht alle. Im Gespräch erklären die Studienleiter, warum dies so ist. Und die Vertreter der Bank sagen, welchen Gewinn die Kundinnen und Kunden aus der Untersuchung erwarten dürfen.

Interview: Patrick Steinemann / Bilder: Lea Meienberg / Illustration: Maria Salvatore | aus dem Magazin «Meine Vorsorge» 1/2023

Gespräch zur Erbschaftsstudie mit Roland Hofmann, Nicole Burgstaller, Stefan Reinhard, Michaela Tanner
Nicole Burgstaller und Stefan Reinhard von der Zürcher Kantonalbank (Mitte) tauschen sich mit Roland Hofmann und Michaela Tanner von der ZHAW über die Ergebnisse der Erbschaftsstudie aus.

Seit dem 1. Januar 2023 gilt in der Schweiz ein neues Erbschaftsgesetz – ein Meilenstein in der Gesetzgebung?

Nicole Burgstaller: Auf jeden Fall. Das bisher gültige Erbrecht war seit 1912 in Kraft und wurde mit Ausnahme von ein paar punktuellen Anpas­sungen nicht mehr revidiert. Vor hundert Jahren war die Ehe zwischen Mann und Frau die Norm, das partnerschaftliche Zusammenleben ohne Heirat verpönt. Seitdem haben sich die Lebensformen stark verändert. Das war auch der Auslöser für die aktuelle Revision, sie soll den heutigen Gesellschaftsformen – Stichwort: Konkubinatspaare und Patchwork-Familien – mehr Rechnung tragen.

Was ändert sich durch die Revision in der Praxis?

Burgstaller: Das Kernstück der Revision ist die Reduktion der Pflichtteile der Nachkommen respektive der Wegfall der Pflichtteile für die Eltern. Der Gestaltungsspielraum in der Nachlassplanung erhöht sich dadurch deutlich. Das Hauptziel unserer Kundinnen und Kunden die gegenseitige Begünstigung der Ehe- oder Lebenspartner kann jetzt noch umfassender erreicht werden. Dies gilt vor allem für unverheiratete Paare, die keine Kinder haben, aber deren Eltern noch leben.

Was wird für diese Paare einfacher?

Burgstaller: Bisher konnte eine Meistbegünstigung des Partners oder der Partnerin oft nur über einen Ehe- oder Erbvertrag erreicht werden verbunden mit entsprechendem Aufwand und Notariatskosten. Neu können kinderlose Paare völlig frei über ihren Nachlass verfügen und sich mit einem Testament etwa gegenseitig als Alleinerben einsetzen.

Nicole Burgstaller, Teamleiterin Erbschaftsberatung, Zürcher Kantonalbank

Das Kernstück der Revision ist die Reduktion der Pflichtteile der Nachkommen respektive der Wegfall der Pflichtteile für die Eltern.

Nicole Burgstaller, Teamleiterin Erbschaftsberatung bei der Zürcher Kantonalbank

Braucht es da überhaupt noch eine Erbschaftsberatung durch die Bank?

Stefan Reinhard: In vielen Situationen wird auch künftig eine fachkundige Beratung hilfreich sein. Wer seinen Nachlass regelt, muss gewisse Formvorschriften und gesetzliche Rahmenbedingungen einhalten. Hier können wir die Kundinnen und Kunden mit unserer Expertise beraten.

Expertise beruht auf Wissen. Gab es bisher zu wenig davon beim Thema Erben und Vererben?

Reinhard: Bis jetzt haben wir uns auf unsere Praxiserfahrung gestützt. Wir wollten jedoch ein besseres wissenschaftliches Fundament als Basis für unsere Beratungen und das Thema auch einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich machen.

War dies der Grund für die Zürcher Kantonalbank, bei der ZHAW eine Erbschaftsstudie in Auftrag zu geben?

Reinhard: Die Datenlage für die Schweiz zu diesem Thema war bisher eher dünn. Mit der Studie wollen wir diese Lücke füllen. Besonders interessiert uns die Frage nach den Motivationen der Erblasserinnen und der Erben. Die gewonnen Erkenntnisse helfen uns, die Bedürfnisse unserer Kunden noch besser zu verstehen.

Studie «Erben und Vererben in der Schweiz und im Kanton Zürich»

Eckdaten

  • Aufbereitung des aktuellen Forschungsstandes zum Thema Erben/Vererben
  • Befragung von rund 1000 potenziellen Erben und Erblassenden zu ihrer Planung und ihren Motiven
     

Ausgewählte Erkenntnisse

  • Erbschaften liefern einen grösseren Beitrag zur Vermögensbildung als Sparbemühungen.
  • Erben sind heute selbst oft auch schon über 60 Jahre alt.
  • Vermögen wird meist innerhalb der Familie vererbt, auch bei Erblassenden ohne Nachkommen.
  • 25-30 Prozent der Erblassenden schreiben ein Testament. Bei allen anderen tritt die gesetzliche Erbfolge ein.
  • Frauen kümmern sich stärker um Pläne und Lösungen beim Nachlass als Männer.
  • Männer begünstigen ihre Partnerin stärker als umgekehrt; Frauen verteilen den grössten Teil ihres Vermögens an die Kinder.
  • Ledige oder im Konkubinat lebende Personen nutzen häufiger als Verheiratete ein Testament, um ihren Nachlass zu regeln.
  • Altruistische Motive überwiegen bei den Erblassenden.
  • Auch Personen ohne pflichtteilsgeschützte Erben verteilen mehr als 60 Prozent ihres Erbes an verwandte Personen wie Geschwister oder Nichten und Neffen.
Stefan Reinhard, Leiter Erbschaften und Stiftungen, Zürcher Kantonalbank

Wer seinen Nachlass regelt, muss gewisse Formvorschriften und gesetzliche Rahmenbedingungen einhalten. Hier können wir die Kundinnen und Kunden mit unserer Expertise beraten.

Stefan Reinhard, Leiter Erbschaften und Stiftungen bei der Zürcher Kantonalbank

Was weiss denn die Wissenschaft allgemein über Erbschaften und Nachlasse in der Schweiz?

Michaela Tanner: Erbschaften sind volkswirtschaftlich sehr bedeutungsvoll. Jährlich werden in der Schweiz enorme Summen weitergegeben, teilweise auch zu Lebzeiten. Schätzungen gehen von rund 95 Milliarden Franken aus – das ist etwa doppelt so viel wie die Summe der AHV-Gelder, die pro Jahr ausbezahlt wird. Heute ist jeder zweite Vermögensfranken, den jemand besitzt, geerbt und nicht selbst erwirtschaftet.


Roland Hofmann: Erbschaften sind zudem sehr ungleich verteilt: Die meisten Menschen erben finanziell betrachtet nur sehr wenig. Wirklich substanzielle Summen erben nur einige wenige Personen. Auf die allgemeine Vermögensverteilung hat dies aber keinen Einfluss: Die Vermögenskonzentration wird durch das Vererben nicht grösser.

Und was wissen die Schweizerinnen und Schweizer zum Thema?

Tanner: In unserer Erhebung war das Wissen zum Thema Erbschaften relativ hoch. Bei unseren Umfrageteilnehmenden handelt es sich aber auch um jenen Teil der Bevölkerung, der überhaupt damit rechnet, irgendwann einmal etwas zu erben oder zu hinterlassen. Es ist deshalb anzunehmen, dass sich diese Personen stärker mit dem Thema befasst haben als der Durchschnitt der Schweizer Bevölkerung. Wissen allein bedeutet allerdings nicht, dass die Leute auch darauf gründend handeln und die vorhandenen Kenntnisse für sich individualisieren.

Erblassende handeln also nicht immer nach klaren Vorstellungen und einem persönlichen Plan?

Tanner: Rund die Hälfte der von uns befragten Personen hat keine speziellen Vorkehrungen getroffen für ihren Nachlass. Der am häufigsten genannte Grund für diese Passivität war, dass die Leute überzeugt sind, noch genügend Zeit zu haben, um die Dinge zu regeln. Das Problem ist hier: Niemand weiss genau, wieviel Zeit ihm oder ihr wirklich noch bleibt bis zum Tod. Es vor sich herzuschieben ist in jedem Fall eine etwas gewagte Handlungsstrategie.

Michaela Tanner, Wissenschaftliche Mitarbeiterin, ZHAW

Erbschaften sind volkswirtschaftlich sehr bedeutungsvoll. Jährlich werden in der Schweiz enorme Summen weitergegeben, teilweise auch zu Lebzeiten.

Michaela Tanner, wissenschaftliche Mitarbeiterin an der ZHAW

Und wie verhalten sich jene, die etwas geregelt haben?

Hofmann: Viele begnügen sich mehr oder weniger mit der Standardlösung, die auch der Gesetzgeber vorsieht, wenn nichts geregelt wurde. Die Praxis und unsere Erhebung zeigen, dass lediglich Anpassungen vorgenommen werden, welche die Ehepartner maximal begünstigen. Jene, die vom gesetzlichen Standard abweichen, sind typischerweise Personen, die nicht in traditionellen Verhältnissen leben. Und damit eigentlich genau jene Personengruppen, die der Gesetzgeber bei der Erbschaftsrevision im Auge hatte, und die durch die Revision jetzt noch mehr Gestaltungsfreiraum bekommen.

Wie ist dies zu interpretieren?

Hofmann: Offenbar stimmt das Gesetz immer noch für viele, und sie verlassen sich darauf, dass auch im Falle einer persönlichen Nicht-Regelung so vorgegangen wird, wie es ursprünglich im Erbrecht vorgesehen wurde.

Was hat Sie aus wissenschaftlicher Sicht am meisten überrascht bei Ihrer Studie?

Tanner: Wir haben etwa festgestellt, dass es Personen ohne Kinder und damit ohne Erben wichtiger ist, in Erinnerung zu bleiben mit ihrem Nachlass. Demgegenüber sind Personen mit Kindern wohl eher der Ansicht, dass etwas von ihnen durch ihre Kinder erhalten bleibt. Die Studie hat zudem ergeben, dass Frauen tendenziell mehr und früher vorsorgen und regeln als Männer.

Hofmann: Eine weitere interessante Erkenntnis ist, dass sich die Motive nicht fundamental ändern mit den finanziellen Verhältnissen, in denen die Erblassenden leben. Offenbar gibt es also auch mit zunehmendem Vermögen keine grundsätzlich anderen Ideen, was mit dem hinterlassenen Geld anzufangen ist.

Roland Hofmann, Leiter MAS Financial Consulting, ZHAW

Forschung ist immer auch Aufklärung: Unsere Arbeit soll der Gesellschaft sauber aufbereitete Fakten liefern als Grundlage für individuelle Entscheidungen.

Roland Hofmann, Leiter MAS Financial Consulting an der ZHAW

Welche Motivation hat Sie besonders angetrieben bei Ihrer Studienarbeit?

Hofmann: Forschung ist immer auch Aufklärung: Unsere Arbeit soll der Gesellschaft sauber aufbereitete Fakten liefern als Grundlage für individuelle Entscheidungen. Die Menschen sollen sich bewusst mit einer Thematik auseinandersetzen können. Wenn sie dann selbstbestimmt entscheiden, nichts zu ändern und sich auf die gesetzlich vorgesehenen Regelungen zu stützen, ist das auch in Ordnung.

Und welchen Gewinn ziehen nun die Kundinnen und Kunden der Zürcher Kantonalbank aus dieser Studie?

Reinhard: Wir werden den Kundinnen und Kunden in unseren Beratungen künftig die wichtigsten Erkenntnisse und Botschaften der Studie je nach individueller Situation und persönlichen Bedürfnissen vermitteln können. Unsere Ansprache zum richtigen Zeitpunkt und auf Basis wissenschaftlicher Fakten soll bei den Kundinnen und Kunden für mehr Relevanz und Präzision sorgen.

Darauf kommt es beim Erben und Vererben an

Illustration Erben und Vererben
  1. Schieben Sie das Thema nicht zu lange auf: Niemand weiss, wieviel Lebenszeit noch bleibt. Regeln Sie Ihr Erbe deshalb rechtzeitig nach Ihren Wünschen und Bedürfnissen. Sehen Sie sich auch unsere Tipps zur Nachlassplanung an.
  2. Finden Sie Antworten auf Ihre Fragen: Wer sich informiert, kann fundierter entscheiden. Informieren Sie sich über Erbrechtsfragen zum Beispiel über unseren Online-Ratgeber «Erben und vererben».
  3. Informieren Sie sich über das neue Erbrecht: Seit dem 1.1. 2023 gilt das neue Erbrecht in der Schweiz. Erkundigen Sie sich über die neuen gesetz­lichen Bestimmungen und die allfälligen Auswirkungen auf Ihre Nachlassplanung.
  4. Überprüfen Sie Ihr Testament: Ihr Testament sollte auch nach dem neuen Erbrecht Ihren Wünschen entsprechen. Gerne helfen wir Ihnen bei der Überprüfung des letzten Willens, zum Beispiel mit dem ZKB Testament-Check.