Tee von gestern

Heisse, aromareiche Aufgüsse sind viel mehr als Getränk und Genuss – nämlich wertvolle Lebensbegleiter, ja, flüssige Weisheit. Genau damit spielt der Text von Alon Renner und Andrea Keller.

Text: Alon Renner und Andrea Keller / Illustration: Lisa Steiner | aus dem Magazin «ZH» 1/2024

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Herr Bach aus Bülach sitzt im Zug nach Küsnacht. Still und einsam schaut er durch die Scheibe auf die vorbeiziehende Landschaft. Seine Frau ist vor ihm gegangen. Auf dem winzigen, grauen, dem grossen Zugfenster vorgelagerten Tischchen steht eine dampfende Thermosflasche mit dazugehörigem Aluminiumbecher, gefüllt mit selbst gebrautem Tee. Die Geschmackssorte: getrocknetes Vergissmeinnicht mit Vanille und einem Extrakt aus ihren Lieblingsbüchern. Ja, Sie haben richtig gelesen, aus ihren Lieblingsbüchern. Einige Zeilen aus «Wintersonne» von Rosamunde Pilcher und eine Prise aus den «Weihnachtsgeschichten» von Charles Dickens.

So wie andere einen Schrebergarten bepflanzen, Steine und Leinwände bemalen oder eine Modell­eisenbahn in ihrem Keller betreiben, so hat Herr Bach seine Leidenschaft für das Sammeln, Trocknen, Kombinieren und Trinken besonderer Teesorten für sich entdeckt. Dabei stellt er die Brösel ins Glas und schwemmt sie auf. Bringt sie zum Schweben, zum Tanzen und zum Kreisen. Bis sie in sich zusammenfallen und in diesem Prozess ihre Seele auf das Wasser übertragen.

Es sind vor allem seine Lebenserinnerungen, aus denen Herr Bach die unterschiedlichsten Teesorten erstellt. So trocknet er die Blüten von Rosen, Jasmin und Löwenzahn, die er seiner Frau jeweils von der Blumenwiese bei der Sternwarte mitgebracht hat, und verwandelt diese in buntriechende Geschmacksorgien. Sein Darjeeling der Sehnsucht, der Liebe und der Erinnerung stammt von einer alten Kinokarte aus dem Jahre 1997. Kurz nachdem das letzte ihrer Kinder ausgezogen war, besuchten sie im Kino ABC eine Vorstellung von «Titanic». Aus dem Sand des Spielplatzes beim Stadtweiher, da, wo sie gar manchen Sonntag mit der pausbackigen Enkelin verbrachten, destilliert er den Tee der Jugend und der Unbekümmertheit, und aus dem zerriebenen Stundenzeiger einer antiken Wanduhr des Uhrmacher­ateliers gewinnt er den Aufguss der Geduld. Selbst gemachter Tee aus Bülach: Hiervon trägt er immer mehrere Sorten mit sich. Seine Heimat, die liegt ihm sehr am Herzen. Genauso, wie es seine Frau immer tat.

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Der Zug wird langsamer. Es ruckelt. Fest hält er die schwarze, tönerne Urne in seinem Schoss. «Billettkontrolle!», ertönt es hinter ihm. Umständlich greift er am Gefäss vorbei nach dem Portemonnaie – jetzt nur nichts verschütten! Herr Bach hat schon aus den seltsamsten Zutaten Tee gewonnen und hierfür viele Preise eingeheimst. Nun befindet er sich auf dem Weg nach Küsnacht, wo er aus der Asche einen erlesenen Chai kreieren will. Ein kleines Labor, mit einer ganz vorzüglichen Destillationsapparatur, hat er hierfür extra gemietet. Der Dorfbach verfügt nämlich genau an der Stelle, an der er den Zürichsee küsst, über die ideale Zusammensetzung, um diesen ganz speziellen Aufguss herzustellen. Nicht zufällig ist dies auch jener Ort, an dem er um die Hand seiner Frau angehalten hat – heute, vor genau fünfzig Jahren.

Seinen Schulschatz zu heiraten, war die wohl beste Entscheidung seines Lebens. Auch wenn nicht immer alles so rosig war. Denn beide hatten sie auch mal fremdgeküsst. Er mit Ende dreissig eine quirlige Bekannte, die er an einem ausgelassenen Kegelabend getroffen hatte. Sie erst kurz vor fünfzig, einen Autor mit geschwollener Zunge, Hornbrille und weichem Flanellhemd, der damals kreatives Schreiben unterrichtete. Zumindest diese Geschichten hatten sie sich eingestanden. Und ja, da gab’s auch gesundheitliche Sorgen. Lange kämpften sie gemeinsam gegen ihre Krebserkrankung an ... All diese Gedanken gehen ihm nun durch den Kopf, während er die Urne fest mit seinen Schenkeln umklammert. Noch eine Station bis Küsnacht. Langsam steht er auf und zieht seinen Mantel an.

Auf dem Perron wird er schon erwartet. Da steht sie, seine Liselotte, ihr graues Haar im Wind. Sie hat den früheren Zug genommen, um noch einige Kräuter in der Nähe der Kirche zu pflücken. So ist sie, seine Frau, ein ganz eigener Kopf. Auch das mit der Asche war ihre Idee. Die beiden hatten am Morgen, bei Spiegelei und Orangensaft, je eine Liste erstellt – mit Erinnerungen, die sie hinter sich lassen wollten. Die Zettel hatten sie im Anschluss auf ihrem Gartensitzplatz verbrannt. Aus der Asche, die Herr Bach in der Urne mitgebracht hat, den frisch gepflückten Kräutern, Gewürzen aus ihrer Küche und dem Dorfbachwasser, wollen sie nun den Chai für eine unbeschwerte Zukunft gewinnen. Denn mit manchen Erfahrungen ist es wie mit den Blättern im Tee – wenn’s gut werden soll, muss man sie ziehen lassen.

Das Autorenduo

Andrea Keller (42) und Alon Renner (52) verbindet die Liebe zum Wort sowie zum Kreieren und Kuratieren besonderer Literatur- und Kulturformate. Dazu gehört das Literaturfestival «Die Rahmenhandlung», welches vom 30.5. bis 2.6.2024 in Zürich stattfindet. kreativ-komplizin.com, dierahmenhandlung.com

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Serie «Frei erfunden»

Der Kanton Zürich bietet Inspiration zu vielen Geschichten – zu wahren und zu erfundenen. 

In der Serie «Frei erfunden» bieten wir Schriftstellerinnen und Schriftstellern mit einem Bezug zu Zürich eine Plattform. Sie schreiben für uns eine Kurzgeschichte, die mit passenden Illustrationen inszeniert wird.

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