Energie­versorgung Europa: Bewährungs­probe steht noch bevor

Vorerst haben weitreichende Massnahmen der Europäischen Union (EU), grosszügige Energiesubventionen, anpassungsfähige Unternehmen und einige begünstigende Sonderfaktoren zur Entspannung bei der Energieversorgung in Europa beigetragen. Der nächste Winter wird aber wegweisend sein. Mehr dazu im Beitrag von Sascha Jucker, Senior Economist Europe.

Text: Sascha Jucker

Tanker mit Flüssiggas (Bild: Getty)
Als Alternative zu russischem Gas setzten die EU-Länder bisher fast ausschliesslich auf Importe von Flüssiggas.

Seit Ausbruch des Ukraine-Krieges haben sich die konjunkturellen Aussichten in Europa markant verschlechtert. Und nachdem Russland mit einem nahezu vollständigen Lieferstopp von Erdgas auf das Anfang Dezember 2022 verhängte Ölembargo der EU reagiert hat, waren sich die Prognostiker einig, dass sich ganz Europa für den Winter definitiv auf eine Energiekrise und eine tiefe Rezession einstellen müsse.

Als Angstbarometer für die Energiesicherheit des alten Kontinents dienen seither die Preise am europäischen Gasmarkt. Die markantesten Preissprünge fanden nach dem Einmarsch Russlands in die Ukraine und nach der Ankündigung des Lieferstopps von russischem Erdgas via Nord Stream 1 statt. Aufgrund ihrer hohen Abhängigkeit von russischem Gas sind die osteuropäischen Länder sowie Italien und Deutschland die Hauptleidtragenden. Entsprechend pessimistisch waren die Konjunkturprognosen für diese Länder. Dank einer Kombination aus anpassungsfähigen Unternehmen und Haushalten, politischen Massnahmen und glücklichen Umständen sind Gasrationierungen für Industrie und Haushalte allerdings bisher ausgeblieben. Ein grosser Wirtschaftseinbruch sollte somit verhindert werden können.

Energiesubventionen entlasten die Haushalte

Die stark gestiegenen Konsumentenpreise stellen insbesondere für Haushalte mit geringen Einkommen eine enorme Belastung dar. Ohne die fiskalpolitischen Massnahmen wären die wirtschaftlichen Folgen für den Privatsektor aber wesentlich heftiger ausgefallen. Gemäss Schätzungen der europäischen Denkfabrik Bruegel aus Brüssel summieren sich die Unterstützungszahlungen der EU-Staaten auf über EUR 570 Mrd. Dabei zeigte sich Deutschland am ausgabefreudigsten. Der deutsche Massnahmenkatalog reicht von Gas- und Strompreisbremsen über die Dezember-Soforthilfe bei den Abschlagszahlungen bis hin zu Mehrwertsteuersenkungen. Sollte Europa nicht in eine Rezession fallen, ist das nicht allein auf die Resilienz der Wirtschaft zurückzuführen, sondern auch auf die finanzielle Unterstützung der Regierung.

Neuorganisation der Energieversorgung

Mit REPowerEU haben sich die Mitgliedstaaten auf der Angebotsseite ambitionierte Ziele gesetzt, um die Energieversorgung zukünftig unabhängig von russischen Gaslieferungen zu bewerkstelligen. Während der Ausbau von erneuerbaren Energien wie Wasserstoff oder Wind- und Solarenergie ein wichtiger Bestandteil des Massnahmenkatalogs ist, haben sich die EU-Länder bis dato vor allem durch die Diversifikation ihrer Gasimporte Zeit verschafft, um die Energieversorgung kurzfristig zu gewährleisten.

Der Wegfall von Gas aus russischen Pipelines wurde beinahe ausschliesslich durch mehr Importe von Flüssiggas (Liquified Natural Gas, LNG) kompensiert. Im Vergleich zum Vorjahr wurden im 4. Quartal 2022 50 Prozent mehr Kubikmeter LNG eingeführt. Davon stammt der grösste Teil aus den USA. Die Umstellung von Erdgas auf Flüssiggas aus Übersee bedingt jedoch, dass es genügend LNG-Terminals in den europäischen Häfen gibt. Bis vor Kurzem war dies in Deutschland, dem grössten Gasimporteur Europas, nicht der Fall. Mittlerweile wurden an der Nord- und Ostsee drei LNG-Terminals in Betrieb genommen. Bis Ende Jahr sollen drei weitere folgen. Neben der Erweiterung auf Flüssiggas wurden auch die Liefermengen über Pipelines aus Norwegen, Grossbritannien, Aserbaidschan und Nordafrika erhöht.

Auch nachfrageseitig hat sich seit Kriegsausbruch viel getan. Das im Rahmen von REPowerEU gesteckte Ziel der Reduktion des Gasverbrauchs um 15 Prozent wird aller Voraussicht nach erreicht. Gemäss offiziellen Angaben lag der Gasverbrauch bei Firmen und Haushalten zwischen August und November 2022 rund 20 Prozent unter der Vergleichsperiode. Finnland hat seinen Verbrauch gar um über 50 Prozent reduziert. Hierfür sorgten allerdings vor allem der milde Spätherbst und daraus resultierend der geringere Heizbedarf der europäischen Haushalte.

Sascha Jucker, Senior Economist Europe (Bild: Andreas Guntli)

Auf milde Temperaturen im Winter zu hoffen ist keine Energiestrategie

Sascha Jucker, Senior Encomist Europe.

Die Bewährungsprobe steht erst noch bevor

Die Füllstände der Gasspeicher zeigen auf, mit wie viel Reserven die Wirtschaft und die Haushalte jeweils in die kalte Jahreszeit starten. Das Ziel eines Speicherfüllstandes von 80 Prozent bis Anfang November 2022 wurde durch die Reallokation von Gasimporten und den niedrigeren Verbrauch deutlich übertroffen. Damit stellt die befürchtete Energieknappheit im aktuellen Winter ein äusserst unwahrscheinliches Szenario dar. Während sich Politiker vordergründig optimistisch zeigen, steht dem europäischen Energiesektor die Hauptprobe aber erst noch bevor.

Kommenden Herbst und Winter werden einige begünstigende Faktoren wegfallen. Zum einen beliefen sich gemäss Schätzungen der internationalen Energieagentur IEA die Gaseinsparungen infolge des warmen Herbstwetters auf 10 Mrd Kubikmeter. Es ist eher unwahrscheinlich, dass sich dies wiederholen wird. Darüber hinaus bezog Europa noch über weite Teile des vergangenen Jahres russisches Erdgas im Volumen von 60 Mrd. Kubikmeter. Sollten die russischen Gaslieferungen über das gesamte laufende Jahr ausbleiben, müssen die EU-Länder zusätzliche 15 Prozent ihres Jahresverbrauchs substituieren. Die aktuellen Verträge für LNG-Lieferungen reichen nicht aus, um diese Lücke zu schliessen.

Dazu kommt, dass sich die Verhandlungen über neue Lieferverträge künftig schwieriger gestalten werden, weil der Markt für Flüssiggas aufgrund der höheren Nachfrage aus anderen Ländern stärker umkämpft sein wird. So haben sich beispielsweise die wirtschaftlichen Aussichten in China mit dem Ausstieg aus der Null-Covid-Stragegie merklich aufgehellt, was die chinesichen LNG-Einfuhren wohl wieder deutlich erhöhen wird.

Weitere Anstrengungen sind zwingend nötig

Im Stresstest-Szenario der IEA mit kälteren Temperaturen in Europa, ausbleibenden Erdgasimporten aus Russland und einem härter umkämpften LNG-Markt fehlen der EU im Jahr 2023 ganze 57 Mrd Kubikmeter Erdgas. Das entspricht 14 Prozent des geschätzten Jahresbedarfs. Diese Angebots-Nachfrage-Lücke wird mit bereits implementierten Massnahmen allerdings auf die Hälfte schrumpfen. Neben der weiteren Diversifikation der Gasimporte sind vor allem Massnahmen zur Nachfragereduktion nötig. Dazu gehören neben weiteren Investitionen in erneuerbare Energien auch die Effizienzsteigerung bei Haushalten und Unternehmen sowie Anpassungen beim Heizverhalten. Auch wenn Europa dank glücklicher Umstände ohne Energiekrise durch diesen Winter kommt, ist die Versorgungssicherheit für die nächsten Jahre noch nicht vollumfänglich gewährleistet. Auf milde Temperaturen im Winter zu hoffen ist keine Energiestrategie. Europa muss das Heft selbst in die Hand nehmen.

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