Schweiz: Zuwanderung und Wachstum

Die Zuwanderung in die Schweiz erreichte im vergangenen Jahr ein neues Rekordhoch. Während die Wirtschaft die positiven Effekte der Zuwanderung hervorhebt, fordern Teile von Politik und Gesellschaft eine umfassende Kosten-Nutzen-Analyse. Welche Effekte hat die Zuwanderung auf Löhne, Beschäftigung, Produktivität und Gesellschaft? Erfahren Sie mehr im Beitrag von David Marmet, Chefökonom Schweiz.

Text: David Marmet

«Eine umfassende Kosten-Nutzen-Analyse der Zuwanderung ist nahezu ein Ding der Unmöglichkeit. Es gibt zu viele individuelle Stellschrauben, die sich laufend verändern», erklärt David Marmet. (Bild: Getty Images)

Im Vorfeld der National- und Ständeratswahlen vom letzten Herbst sorgten die hohen Asyl- und Zuwanderungszahlen teilweise für hitzige Debatten. Für die einen war klar, dass zu viele und die falschen Ausländerinnen und Ausländer in die Schweiz kommen. Das führe zu Wohlfahrtsverlusten, zudem seien dadurch auch unsere Nachhaltigkeitsziele schwerer zu erreichen.

Die andere Seite argumentierte, die Zuwanderung erhöhe den Wohlstand in der Schweiz und überdies sei unser Land seiner humanitären Tradition und Verantwortung verpflichtet. Insbesondere die Personenfreizügigkeit mit der EU sei ein Erfolgsmodell, da die allermeisten Zugewanderten zum Arbeiten in die Schweiz kämen. Die tiefe Arbeitslosigkeit in der Schweiz zeige, dass dies den Arbeitsmarkt komplementär bereichere.

Aus ökonomischer Sicht stellt sich nun folgende Frage: Erhöht oder schmälert die Zuwanderung den Wohlstand bzw. die Wohlfahrt in unserem Land?

Wohlfahrt, Wohlstand und BIP

Für Verwirrung sorgt oft schon die unterschiedliche Verwendung der Begriffe. Während Wohlfahrt so etwas wie Lebensqualität bzw. Wohlbefinden des Menschen im Allgemeinen bezeichnet, wird Wohlstand typischerweise enger gefasst und bezieht sich rein auf das materielle Wohlergehen. Die Ökonomenzunft fokussiert sich vor allem auf Letzteres und meint damit in den meisten Fällen das Bruttoinlandsprodukt (BIP) – also einen einzelnen, wenn auch den wichtigsten, Indikator zur Messung von Wohlstand.

Im Grunde ist es einfach: Immigration erhöht das BIP

Die Zuwanderung erhöht den Wohlstand, weil Wirtschaftswachstum im Allgemeinen durch drei Grössen angestossen wird: Arbeit, Kapital und technologischer Fortschritt. So postulieren es zumindest die gängigen Wachstumsmodelle. Wenn in einem, zweifelsohne vereinfachten Beispiel, Kapital und technologischer Fortschritt konstant gehalten werden und sich der Faktor Arbeit erhöht, steigt auch das BIP. Oder anders formuliert: Wenn auch nur ein Teil der zugewanderten Menschen arbeitet, erhöht sich der Wohlstand eines Landes.

Zuwanderung steigert meist die Produktivität

Freilich ist für den Einzelnen damit noch nicht viel gewonnen. Hier kommt eine für Individuen wichtigere Kennzahl ins Spiel: Das BIP pro Kopf. Da gestaltet sich die Antwort schon bedeutend komplexer, wenngleich auch hier die meisten Studien zu einem positiven Ergebnis kommen. Der Internationale Währungsfonds (IWF) rechnet als Beispiel für reiche Länder vor, dass bei einem Beschäftigungsanstieg der Zugewanderten um einen Prozentpunkt die Produktion in den nächsten Jahren um beinahe ein Prozent steigt. Dabei zeigt sich, dass rund zwei Drittel dieser Steigerung durch eine höhere Arbeitsproduktivität zustande kommen und das verbleibende Drittel auf das reine Beschäftigungswachstum zurückzuführen ist.

Spezialisierung bringt Produktivitätsgewinne

In der Literatur wird betont, dass ein wichtiger Grund für das Produktivitätswachstum auf einer in den meisten Fällen gegebenen Komplementarität zwischen einheimischen und zugewanderten Arbeitskräften beruht. Ein weiterer Grund ist der oftmals stattfindende positive Verdrängungseffekt. Das heisst: Treten Zuwanderer in den Arbeitsmarkt ein, wechseln Einheimische in neue Berufe, die in vielen Fällen gute Sprach- und Kommunikationsfähigkeiten oder die Ausführung komplexerer Aufgaben erfordern. Diese Spezialisierung führt zu gesamtwirtschaftlichen Produktivitätsgewinnen. Einige Forschende bezweifeln indes, dass die Migration in hochentwickelten Ländern noch komplementär wirkt. Sie gehen davon aus, dass die Einheimischen und die Zugewanderten ähnliche Qualifikationen mitbringen und daher vermehrt in Konkurrenz zueinander stehen.

Zuwanderung und Lohnentwicklung

In Bezug auf die Löhne kommt das Gros der Fachliteratur zu dem Schluss, dass die Arbeitsmigration nur einen sehr geringen Einfluss auf die Durchschnittslöhne einheimischer Arbeitnehmenden ausübt. Die Argumente sind dieselben wie bei der Beschäftigung, also Komplementaritäts- und Spezialisierungseffekte. Je nach Qualifikation gibt es aber dennoch messbare Effekte. So beeinflusst die Zuwanderung Geringqualifizierter tendenziell die Löhne der Einheimischen ohne Schulabschluss negativ. Hingegen wirkt die Zuwanderung Hochqualifizierter positiv, sowohl auf die Löhne von Einheimischen mit Hochschulabschluss als auch auf diejenigen mit geringerem Bildungsniveau.

Sonderfall Schweiz – auch bei der Zuwanderung?

Gelten diese empirischen Befunde auch für die Schweiz? Das Personenfreizügigkeitsabkommen mit der Europäischen Union (EU) trat im Juni 2002 in Kraft. Seither sind aus dem EU/EFTA-Raum knapp zwei Millionen Menschen zugewandert, während über eine Million die Schweiz in dieser Zeit auch wieder in Richtung EU/EFTA verlassen haben. Aus Drittstaaten sind im selben Zeitraum mehr als eine Million Personen zugewandert; halb so viele haben unser Land in der Zeit wieder dorthin verlassen. Zwischen 2002 und 2023 ist die Schweizer Bevölkerung um 1,7 Millionen Menschen (22 Prozent) gewachsen, wovon 1,5 Millionen (90 Prozent) auf die Zuwanderung zurückzuführen sind. Im selben Zeitraum verzeichnete das reale BIP eine Steigerungsrate von knapp 50 Prozent. Pro Kopf hat es sich folglich um rund 20 Prozent erhöht. Diese Überschlagsrechnung bestätigt den von der internationalen Literatur genannten positiven Effekt.

Grenzgänger: BIP-Wachstum und Verkehrsstau

Nicht berücksichtigt in diesen Zahlen ist die wachsende Bedeutung pendelnder ausländischer Arbeitskräfte. So wurde im Zuge der Personenfreizügigkeit 2002 auch der Zugang der Grenzgängerinnen und Grenzgänger zum Schweizer Arbeitsmarkt liberalisiert. Vor 20 Jahren arbeiteten 165'000 Personen in der Schweiz, wohnten aber in Frankreich, Italien, Deutschland oder Österreich. Im vergangenen Jahr waren es bereits 390'000 Personen. So machen inzwischen die ausländischen Pendler in Genf mehr als ein Viertel aller Erwerbstätigen aus. Da die Grenzgänger zwar das BIP erhöhen, nicht aber zur Schweizer Bevölkerung zählen, verzerren sie die Berechnung des BIP pro Kopf. Ohne die Grenzgänger wäre das BIP pro Kopf in den letzten 20 Jahren um rund 17 Prozent und nicht um 20 Prozent angestiegen.

Wie Studien der Konjunkturforschungsstelle der ETH Zürich (KOF) zeigen, verdrängen ausländische Pendler die einheimischen Arbeitskräfte in den Grenzregionen nicht. Der Komplementäreffekt scheint auch in der Schweiz zu wirken. Zudem stiegen die Löhne von hochqualifizierten Einheimischen in den Grenzregionen überproportional. Was hingegen die Bevölkerung negativ zu spüren bekommt, ist die Überlastung der Verkehrsinfrastruktur.

Ein Blick ausserhalb des Arbeitsmarktes

Damit sind wir bei den Folgen der Zuwanderung jenseits der reinen Arbeitsmarktbetrachtung angelangt. Das Bevölkerungswachstum führt zu einer Verknappung des limitierten Produktionsfaktors Boden. Dadurch steigen die Wohn-, Infrastruktur- und Verkehrskosten. Dies gehe einher mit steigenden Lebenshaltungskosten, was wiederum dazu führe, dass unser realer Wohlstand mit der Zeit auf das Niveau der EU sinke – so die Mahner. Aus ihrer Sicht ist die Personenfreizügigkeit ein gigantisches Umverteilungsprojekt. Gewonnen haben diejenigen, die Land und Immobilien besitzen. Aber auch die Bildungs- und Gesundheitskosten nähmen aufgrund der Verknappung, Verteuerung und Überlastung zu. Unter dem Strich überstiegen diese Füllungskosten den positiven Effekt auf dem Arbeitsmarkt. In einer umfassenden Betrachtung sei die Zuwanderung deshalb wirtschaftlich negativ. Und zu guter Letzt wird von Soziologen ins Feld geführt, dass der gesellschaftliche Kitt durch Identität und Kultur gestaltet wird. Eine hohe Zuwanderung führe zu disruptiver Diversität, das Sicherheitsgefühl nehme in der Folge rasant ab – mit kaum zu beziffernden Folgen für den nationalen Zusammenhalt. Oder anders ausgedrückt: Auch wenn die Zuwanderung den Wohlstand insgesamt fördern sollte, nimmt die breiter gefasste Wohlfahrt durch eine zu rasche Zuwanderung ab.

Zufriedenheit der Bevölkerung

Diese Bedenken mögen stichhaltig sein, nur finden sie in der Statistik bis anhin keinen entsprechenden Niederschlag. In der jährlich vom Bundesamt für Statistik durchgeführten Erhebung zu den Lebensbedingungen sagen zwischen 85 und 90 Prozent der Schweizerinnen und Schweizer aus, dass sie mit dem Zusammenleben im Allgemeinen konstant zufrieden bis sehr zufrieden sind (vgl. Grafik). Dies ist erstaunlich, werden in den Medien doch Dichtestress, Wohnungsknappheit, Zuwanderung und soziale Ungleichgewichte heiss diskutiert. In der Befragung erwähnt dies die Durchschnittsschweizerin bzw. der Durchschnittsschweizer aber kaum.

Zufriedenheit in Bezug auf das Zusammenleben

(Quellen: Zürcher Kantonalbank, BfS)

Gesellschaftliche Diskussion erwünscht

Wie diese Ausführungen zeigen, ist eine umfassende Kosten-Nutzen-Analyse der Zuwanderung nahezu ein Ding der Unmöglichkeit. Es gibt zu viele individuelle Stellschrauben, die sich laufend verändern. Die Zuwanderung bringt viel Bewegung in so unterschiedliche Themen wie Bodenpreise, Steuereinnahmen, Infrastrukturbedarf, Finanzierung der Sozialwerke, Wohnungsmieten oder Fachkräftebedarf. Relativ unbestritten ist indes, dass die Zuwanderung für Unternehmen und hochqualifizierte Arbeitskräfte positive Effekte zeitigt. Diese haben ein Preisschild, das in einer Gesamtkostenbetrachtung nur schwer zu beziffern ist. Umso wichtiger ist es, dass Wirtschaft und Politik die sozialen und kulturellen Aspekte der Zuwanderung aktiv thematisieren und bestrebt sind, Zahlen und Studien zu liefern, um zumindest die unvollständige Kosten-Nutzen-Analyse in Teilen zu erweitern. Dies wird einer offenen Gesellschaft wie der Schweiz langfristig zugutekommen.