Wohl­stand nimmt unter­durch­schnittlich zu

Es ist nicht alles Gold, was glänzt. Hierzu gehört auch die Schweizer Wirtschaft und dessen Wachstum. David Marmet, Chefökonom Schweiz bei der Zürcher Kantonalbank, wirft einen etwas anderen Blick auf die Zahlen.

Text: David Marmet / Bild: Selina Meier

Die Schweiz weist zwar ein hohes Wachstum beim BIP auf, jedoch nicht bei der Produktivität. David Marmet, Chefökonom Schweiz

In den letzten Jahren wurde die Schweizer Wirtschaftsstruktur schon oft als ausserordentlich robust und gesund hervorgehoben. Von der globalen Finanzkrise 2008/09 erholte sich die Schweiz rasch. Den Frankenschock von 2015 mit der Aufgabe des Euro-Mindestkurses durch die Schweizerische Nationalbank hat sie erstaunlich gut verdaut. Und wirtschaftlich ist die Schweiz auch relativ glimpflich durch die Coronapandemie gekommen. Dennoch ist nicht alles Gold, was glänzt, und so soll eine der Schattenseiten der Schweizer Wirtschaft ihre Erwähnung finden: das extensive Wachstum der letzten Jahrzehnte. Was ist damit gemeint?

Während der letzten 30 Jahre erhöhte sich das reale Bruttoinlandsprodukt (BIP) der Schweiz kumuliert um mehr als 60 Prozent. In den USA war der Zuwachs mit rund 100 Prozent zwar unverkennbar stärker, in unseren Nachbarländern fiel er jedoch deutlich geringer aus. So nahm in Deutschland das BIP in dieser Zeit um 40 Prozent zu. In Japan, das gemessen am Wachstum seit Jahren zu den Schlusslichtern der Industrieländer gehört, betrug die Zunahme gerade mal 21 Prozent. Das BIP-Wachstum widerspiegelt die Dynamik der Wirtschaft eines Landes. Aus dieser Warte betrachtet steht die Schweiz gut da.

Neben dem BIP Wachstum ist auch das Bevölkerungs­wachstum relevant

Nun ist aber das BIP eines Landes allein kein aussagekräftiger Indikator für den Lebensstandard seiner Bevölkerung. Aussagekräftiger für den materiellen Wohlstand ist vielmehr die Wirtschaftskraft im Verhältnis zur Anzahl der Bewohner. Die Schweiz ist eines der wohlhabendsten Länder der Welt. Sie verfügt über ein vergleichsweise hohes BIP pro Kopf. Ein durchschnittlicher Bewohner der Schweiz kann sich mehr leisten als zum Beispiel ein Bewohner Deutschlands. Die Schweiz steht folglich auch bei diesem Indikator gut da. Wo bleibt also die Schattenseite?

Die Schweizer Bevölkerung ist in den letzten 30 Jahren um rund 27 Prozent gewachsen. In den USA war die Bevölkerungszunahme mit 29 Prozent leicht höher, in Deutschland mit 3,5 Prozent und Japan mit 0,6 Prozent hingegen massiv niedriger. Konkret heisst das, dass sich der Lebensstandard in der Schweiz, gemessen am BIP pro Kopf, vergleichsweise schwach entwickelt hat. So nahm in den letzten drei Jahrzehnten das BIP pro Kopf in den USA um 55 Prozent zu, in Deutschland um 36 Prozent, in der Schweiz um 29 Prozent und in Japan um 20 Prozent. Ökonomen bezeichnen denn auch das US-Wachstum als tendenziell intensiv, das Wachstum der Schweiz dagegen als extensiv. In seiner Reinkultur bedeutet ein extensives Wachstum, dass das BIP-Wachstum eines Landes lediglich dem Bevölkerungswachstum entspricht – und das Produktivitätswachstum folglich stagniert.

Weichenstellung für die Zukunft

Das tendenziell extensive Schweizer Wachstum beruht zu einem kleinen Teil auf dem Geburtenüberschuss und zu einem grossen Teil auf der positiven Nettozuwanderung. Die Schweizer Bevölkerung wächst zwar relativ stark, die Produktivität ihrer Volkswirtschaft ist hingegen unterdurchschnittlich. Wichtig ist neben politischen Diskussionen über Dichtestress, Infrastrukturausbau und gewünschte Zuwanderung daher das Finden von Lösungsansätzen für Produktivitätswachstum, technischen Fortschritt und die damit verbundenen nötigen Regulierungen. Werden die Weichen heute richtig gestellt, wird der Lebensstandard der Schweiz auch in Zukunft überdurchschnittlich hoch sein. Auf Lorbeeren darf man sich bekannterweise nicht lange ausruhen.

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