Europäischer Emissions­handel als politischer Draht­seilakt

Etwa ein Viertel aller globalen Treibhausgasemissionen wird mittlerweile durch Handelssysteme oder Steuern bepreist. In Europa gibt es das Emissionshandelssystem seit 2005. Lange Zeit verharrten die Preise für die Zertifikate im Winterschlaf, doch in den letzten fünf Jahren ist viel Dynamik entstanden. Erfahren Sie mehr über die Funktionsweise des europäischen Emissionshandelssystems im Beitrag.

Text: Silke Humbert

Silke Humbert
«Ein Emissionshandelssystem erzeugt finanzielle Anreize für eine kosteneffiziente Dekarbonisierung», erklärt Silke Humbert, Nachhaltigkeitsökonomin.

Heute gibt es weltweit 36 Handelssysteme für Emissionsrechte auf Treibhausgase. Zusammen decken sie knapp 18 Prozent der globalen Treibhausgasemissionen ab. Nimmt man die Steuern auf Treibhausgase hinzu, so ist etwa ein Viertel aller globalen Emissionen durch Handelssysteme oder Steuern abgedeckt. Verursacher sollen so für die entstandenen Emissionen bezahlen. Dies soll ihnen einen Anreiz geben, ihre Emissionen durch Umstellung auf emissionsarme Technologien zu senken.

Während Steuern eine fixe Abgabe pro Emissionseinheit darstellen, funktionieren viele bestehende Emissionshandelssysteme nach dem «Cap and Trade»-System. Staaten oder supranationale Institutionen legen eine Obergrenze für Emissionen fest – den sogenannten Cap. Die Emissionen können in Form von Zertifikaten, die als Verschmutzungsrechte fungieren, unter den Unternehmen gehandelt werden – der sogenannte Trade.

Der Preis für diese Zertifikate ergibt sich aus Angebot und Nachfrage. Der ökonomischen Theorie folgend, investieren nun die Unternehmen mit den geringsten Kosten für eine Umstellung auf eine emissionsarme Produktion zuerst in neue Anlagen und verkaufen ihre Zertifikate an Unternehmen mit höheren Umstellungskosten. Das Handelssystem ist somit marktorientiert und kosteneffizient. Wird die Obergrenze an Zertifikaten regelmässig gesenkt, steigen die Kosten für die Emissionen, sodass die Unternehmen – so die Theorie – ihre Produktion stetig dekarbonisieren.

Emissionen in Europa: Der Markt soll es richten

Der europäische Emissionshandel (EHS) hat zum Ziel, die Emissionen bis 2030 im Vergleich zum Gründungsjahr 2005 um 62 Prozent zu reduzieren. Dieses Reduktionsziel ist in den letzten Jahren schrittweise nach oben geschraubt worden. Der europäische EHS umfasst aktuell die Energiewirtschaft und energieintensive Industrien wie zum Beispiel Zement, Stahl und Glas. Damit sind knapp 40 Prozent der europäischen Emissionen erfasst. Von 2023 bis 2026 wird die Schifffahrt schrittweise miteinbezogen. Ab 2026 wird es ein paralleles Handelssystem für Gebäude und Strassentransport geben, das etwa 34 Prozent der Emissionen abdecken wird, sodass ab 2026 insgesamt über 70 Prozent der Emissionen in der EU vom EHS erfasst werden.

Gleich lange Spiesse dank dem CO2-Grenzausgleichssystem

Da internationale Unternehmen ihre Produktionsstandorte bei Bedarf verlagern können, birgt ein regional begrenztes Emissionshandelssystem wie das europäische EHS die Gefahr, dass die emissionsintensive Produktion aus der EU abwandert. Um dieser Gefahr zu begegnen, hat die EU im Oktober 2023 ein CO2- Grenzausgleichssystem (CBAM) eingeführt. In einer ersten Phase bis Ende 2025 müssen Importeure auf Einfuhren von ausserhalb der EU die in der Produktion entstandenen CO2- Emissionen offenlegen. Ab 2026 fällt eine Gebühr für diese CO2-Emissionen an, sofern der Importeur nicht schon im eigenen Land eine äquivalente Abgabe leisten musste.

Ein weiterer Effekt des Grenzausgleichssystems ist die Gleichstellung der inländischen und ausländischen Industrie. Gleich lange Spiesse für alle soll die Devise sein – unabhängig vom Produktionsstandort. Das gelingt allerdings nicht ganz: Europäische Unternehmen, die in Länder ausserhalb der EU exportieren, die keine CO2- Abgaben kennen, haben nach wie vor einen finanziellen Nachteil. Auch andere Länder mit einem EHS wie etwa Kanada oder Australien sind im Begriff, ähnliche grenzüberschreitende Ausgleichsmechanismen zu installieren. Bisher hat das EHS nicht zu einer massiven Abwanderung energieintensiver Unternehmen geführt. Allerdings haben diese Unternehmen bislang viele ihrer Zertifikate kostenlos erhalten. Mit der Einführung des Grenzausgleichssystem soll nun die Praxis der kostenlosen Vergabe zurückgefahren werden.

Einnahmen: Wohin fliesst das Geld?

Für die EU hat das EHS den angenehmen Nebeneffekt, dass neue Einnahmen generiert werden. Aktuell fliessen diese in zwei Fonds: Zum einen in den Innovationsfonds, der neue emissionsarme Projekte fördert, und zum anderen in den Modernisierungsfonds für die wirtschaftsschwächeren EU-Mitgliedstaaten, deren Energiesektor vor besonders grossen Herausforderungen steht.

Vielfältige und kurzfristige Nachfragetreiber

Die Nachfrage nach Zertifikaten wird von mehreren Faktoren bestimmt:

  1. Industrie und Energieerzeugung: Je höher die Emissionsintensität und je teurer die Umstellung auf emissionsarme Technologien ist, desto mehr Zertifikate werden nachgefragt
  2. Die Konjunktur: In einer Hochkonjunkturphase wird mehr emissionsverursachende Energie gebraucht als in einer Rezession
  3. Die innere Mechanik der Energiebranche: Ab einem bestimmten Zertifikatspreis lohnt es sich beispielsweise, von Kohle auf den weniger emissionsintensiven Energieträger Gas umzusteigen
  4. Die Politik: Beispielsweise mit Entscheidungen wie der Stilllegung von Kernkraftwerken
  5. Die Investorinnen und Investoren: Indem sie sich z.B. unter der Annahme steigender Zertifikationspreise frühzeitig mit Zertifikaten für spätere Allokationsphasen eindecken
  6. Das Wetter: Sehr heisse Sommer oder sehr kalte Winter erfordern mehr Energie zur Kühlung bzw. zum Heizen

Angebot: Lange Allokationsphasen

Auf der Angebotsseite wird für jede Branche die durchschnittliche Emissionsintensität der 10 Prozent effizientesten Anlagen über die letzten zwei Jahre ermittelt. Dieser Wert gilt fortan als Massstab für den Emissionsbedarf der ganzen Branche. Auf dieser Basis wird zu Beginn jeder neuen Zuteilungsperiode die Menge der Zertifikate festgelegt. Die aktuelle Allokationsphase begann 2021 und dauert bis 2025. Mit einem linearen Reduktionsfaktor von 4,2 Prozent wird die Obergrenze der Emissionszertifikate zu jeder neuen Allokationsphase reduziert. Die Zertifikate werden entweder kostenlos zugeteilt oder von den teilnehmenden Unternehmen ersteigert. In der ersten Phase von 2005 bis 2007 wurden 99 Prozent der Zertifikate kostenlos zugeteilt, inzwischen wird mehr als die Hälfte der Zertifikate versteigert.

Schätzungen oft höher als tatsächliche Nachfrage

Seit Beginn des Emissionshandels im Jahr 2005 hat knapp die Hälfte der teilnehmenden Unternehmen – die Energiewirtschaft ausgenommen – mehr Zertifikate erhalten als sie tatsächlich benötigten. Diese Überallokation hat ihre Ursache im Mechanismus, mit dem das Angebot an Zertifikaten bestimmt wird: Die Anzahl herausgegebener Zertifikate wird mit dem Blick in den Rückspiegel für eine lange Zeitspanne festgelegt und berücksichtigt die vielen kurzfristigeren Nachfragetreiber wie z.B. auch Krisen nicht. Dennoch ist die kostenlose Verteilung von Zertifikaten gerade im jungen Emissionshandel keine Seltenheit. So fangen die meisten EHS mit kostenlosen Zertifikaten an, um ihre Industrien langsam an das neue System zu gewöhnen.

Preise: Langer Winterschlaf und neuerliche Aktivität

Die EU befindet sich mit ihrem Markt für Emissionsrechte in einem Spannungsfeld: Einerseits will sie der eigenen Industrie finanzielle Anreize zur Dekarbonisierung geben, andererseits ihr aber auch keine Standortnachteile aufbürden. Gerade zu Beginn überwog die Vorsicht der Regulatoren, sodass viele Zertifikate kostenlos verteilt wurden und es zu einer Überallokation von Zertifikaten kam. Industrien, die stark von einer Abwanderung der emissionsintensiven Industrie betroffen waren, erhielten besonders viele Gratiszertifikate. Der Preis fängt erst seit 2018 an zu steigen (vgl. Grafik). Zwischen Gründung des EHS in 2015 und 2018 dümpelte der Preis lange unter Euro 20 vor sich hin.

Preis in Euro für europäische CO2-Zertifikate

Grafik: Preis in Euro für europäische CO2-Zertifikate
Quellen: Zürcher Kantonalbank, Bloomberg

Die Überallokation hat zwar mittlerweile ihren Höhepunkt überschritten, aber in einzelnen Sektoren wie etwa der Stahl- oder Chemiebranche existieren immer noch mehr Zertifikate als Emissionen. Die EU ist sich dessen jedoch bewusst. Neue Regulierungen hatten zum Ziel, die Überallokation zu reduzieren. Wie in der Grafik zu sehen, ist der Preis für die Zertifikate spätestens seit 2018, nach Inkrafttreten der strengeren Regulierung, deutlich angestiegen - zeitweise bis auf knapp EUR 100 pro Tonne CO2. Am aktuellen Rand haben die Zertifikatspreise aber wieder deutlich nachgegeben. Die Rezession in der europäischen Industrie, ein bis anhin milder Winter, hohe Energieerzeugung durch erneuerbare Energien und die Aussicht auf die neue Allokationsphase haben die Nachfrage gedämpft.

Ausser Spesen nichts gewesen?

In den Industrieländern sind die Treibhausgasemissionen tendenziell rückläufig. Um zu klären, ob das Emissionshandelssystem die Ursache für diesen Rückgang ist, sind Studien erforderlich. Eine Studie von Bayer und Aklin vergleicht mit statistischen Methoden die hypothetischen Emissionen einer synthetischen Kontrollgruppe mit den tatsächlich erfassten Emissionen. Sie kommt zum Schluss, dass die Emissionen in der EU zwischen 2008 und 2016 um 7,5 Prozent gesunken sind und etwa die Hälfte davon kausal dem EHS zuzuschreiben ist.

Mit einer realen Kontrollgruppe arbeitet das Acadia Center, das die US-Bundesstaaten, die der «Regional Greenhouse Gas Initiative (RGGI)» beigetreten sind, mit denen vergleicht, die dieser Initiative nicht beigetreten sind. Auch hier wird ein positiver Effekt gefunden: In der Zeitperiode von 2008 bis 2018 sind in den US-Staaten, die Mitglied der RGGI waren, die Emissionen um 22 Prozent schneller gesunken als in den US-Staaten, die der Initiative nicht beigetreten waren. Gleichzeitig verzeichneten die US-Staaten der RGGI in dieser Zeitperiode ein höheres Wirtschaftswachstum.

Es bleibt ein politischer Drahtseilakt

Die Stossrichtung der EU ist klar: Sie bekennt sich zu den Pariser Klimazielen, und die Bepreisung von Treibhausgasen durch den Emissionshandel ist dabei ein zentraler Baustein. Die jüngsten Reformen des Handelssystems enthalten viele Elemente, die die Zertifikate zukünftig verknappen sollen. Das EHS wurde nicht einmal angesichts des Angriffskriegs Russlands auf die Ukraine und anschliessender Befürchtungen zur Energieknappheit und der zwischenzeitlich stark gestiegenen Energiekosten kurzfristig ausgesetzt. Im Gegenteil, die Ambitionen wurden nach oben geschraubt, um in Zukunft mit erneuerbaren Energien energieunabhängiger zu werden. Das zeugt von Konsequenz. Auch dass mittlerweile viele andere Länder ähnliche Systeme installiert haben, spricht dafür, dass sich hier ein neuer Standard etabliert. Die Preise für die Zertifikate müssten laut Internationaler Energieagentur bis 2050 auf USD 200 bis 250 pro Tonne CO2 steigen, um Netto-Null zu erreichen. Gemäss Analysen von Bloomberg ist davon auszugehen, dass der Preis für eine Tonne 2024 wieder ansteigen und 2030 bei EUR 149 liegen wird.

Gleichzeitig bleibt es ein hochpolitisches Unterfangen. Regierungswechsel, mangelnder Rückhalt für die Energiewende in der Bevölkerung oder unerwartet hohe Energiekosten können schnell zu einer Verwässerung des EHS führen. Exemplarisch kann man das am REPowerEU-Programm sehen, das ins Leben gerufen wurde, um die Abhängigkeit von russischen Energieträgern zu reduzieren. Zur Finanzierung des Programms sollen unter anderem Einnahmen aus dem EHS dienen. Hierfür wurden neue Emissionsrechte über Auktionen auf den Markt gebracht, was das Angebot vergrössert und den Preis für ein Zertifikat drückt. Schlussendlich ist es der politische Wille, der den Preis der CO2-Zertifikate bestimmt. Einen inhärenten Wert haben die Zertifikate nicht.

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